Prof. Dr. Horst-Jürgen Gerigk
Prof. Dr. Horst-Jürgen Gerigk

Horst-Jürgen Gerigk
(Universität Heidelberg)



Turgenjew heute
Seine Bedeutung für das literarische Bewusstsein
unserer Gegenwart

 

 

Turgenjew lebte von 1818 bis 1883. Er wurde 64 Jahre alt und starb im 3. September 1883 in Bougival bei Paris. Das ist jetzt 129 Jahre her. Und es ist legitim, zu fragen, was denn von seiner literarischen Hinterlassenschaft heute noch lebendig ist. Dass tatsächlich noch einiges lebendig ist, davon zeugt nicht zuletzt die Existenz einer Deutschen Turgenjew-Gesellschaft, die in diesem Jahr unter dem Vorsitz von Renate Effern ihr zwanzigjähriges Jubiläum begeht.[1]


Im internationalen Kontext unserer Gegenwart zählt Turgenjew, zusammen mit Dostojewskij und Tolstoj, zum Dreigestirn des russischen Romans. Dreigestirn -- das ist ein schönes Bild und auch ein richtiges Bild, das aber durchaus kommentarbedürftig ist. Denn: Turgenjews Romane, es sind insgesamt sechs, haben innerhalb seines Gesamtwerks einen ganz anderen Ort und Stellenwert als die Romane Dostojewskijs und Tolstojs in deren Gesamtwerk.


Sehen wir uns also Turgenjews literarische Hinterlassenschaft etwas genauer an. Sie liegt vor in 15 Bänden, die auch seine publizistischen Schriften enthalten, bestehend aus Rezensionen, Erinnerungen, Erlebnisberichten, Nachrufen sowie der Abhandlung „Hamlet und Don Quijote“, die zu den bedeutendsten geistesgeschichtlichen Dokumenten der europäischen Literatur des 19. Jahrhunderts gehört, vergleichbar nur noch mit Schillers Abhandlung „Über naive und sentimentalische Dichtung.“ Auf „Hamlet und Don Quijote“ werde ich sogleich noch im Detail zurückkommen.


Zunächst geht es um die Systematisierung seiner literarischen Hinterlassenschaft im engeren Sinne, das heißt: um sein belletristisches Oeuvre. Dieses hat sein Zentrum, so darf man sagen, in den „Aufzeichnungen eines Jägers“ (erschienen von 1847-1874), die aus 25 Erzählungen verschiedenster Machart bestehen, vom Wirklichkeitsausschnitt, den der „Jäger“ (mal zu Fuß unterwegs oder auch im Reisewagen mit Kutscher) zufällig als hilfloser Zeuge zu Gesicht bekommt („Das Stelldichein“), bis zum Lebenslauf eines Sonderlings, rekonstruiert aus Episoden vom Hörensagen („Tschertopchanows Ende“). Um dieses Zentrum gruppieren sich auf der einen Seite die sechs Romane und 36 Erzählungen, auf der anderen Seite 83 „Gedichte in Prosa“ (eine eigene Gattung, mit der Turgenjew das oftmals ländliche Pendant zu Baudelaires urbanen „Petits poèmes en prose“ von 1869 geschaffen hat). Auf diese Seite gehören auch zwei Bände frühe Lyrik und acht ebenso frühe Verserzählungen. [2]


Man sieht: Turgenjews poetische Kompetenz reicht vom epischen Erzählen der sechs Romane, „Rudin“, „Ein Adelsnest“, „Am Vorabend“, „Väter und Söhne“, „Rauch“ und „Neuland,“ bis zur kurzen lyrischen Impression, die bei ihm in der Sonderform des „Gedichts in Prosa“ zur Blüte kommt. Ja, das lyrische Element beschränkt sich nicht auf seine Gedichte, es prägt auch die Erzählungen und Romane, die immer wieder in lyrisch konzipierten Situationen ihre Höhepunkte finden. Im Unterschied zu Dostojewskij und Tolstoj ist Turgenjews Kreativität lyrisch inspiriert. Zu Recht spricht man von Turgenjews „poetischem Realismus“. Turgenjew geht es zentral um die „Poesie des Herzens“ und nicht um die „Prosa des Lebens“. (Diese Unterscheidung entnehme ich den „Vorlesungen über die Ästhetik“ von Georg Wilhelm Friedrich Hegel, der natürlich Turgenjew noch nicht kennen konnte.) [3]


Das hat ganz verschiedene formale und inhaltliche Konsequenzen. Dostojewskijs Gesamtwerk hat in den fünf großen Romanen sein Zentrum: „Schuld und Sühne“, „Der Idiot“, „Die Dämonen“, „Der Jüngling“, „Die Brüder Karamasow“. Die Konzeption dieser Romane ist patriotisch, ja ausgesprochen nationalistisch. Auf dem Boden der russischen Orthodoxie, die allerdings mit eigenen Akzenten versehen wird, werden Juden. Polen und Türken gnadenlos negativ dargestellt. Heute müssten wir sagen, Dostojewskij wäre ein Fall für den Verfassungsschutz. Dostojewskij bekämpft in Juden, Polen und Türken die drei Weltreligionen: mosaischer Glaube, römischer Katholizismus und Islam. Niemals hätte sich Turgenjew auf so etwas eingelassen. In Tolstojs Oeuvre bilden die Romane „Krieg und Frieden“ und „Anna Karenina“ die Höhepunkte, mit „Auferstehung“, wenn man so will, als Epilog oder Coda. Immer geht es um Ablehnung dessen, was den Menschen als geistiges Wesen von sich selber entfremdet. Solche Ablehnung bezieht sich einmal auf die herrschenden Konventionen, die Kultur insgesamt mit ihren Institutionen (dies ganz im Geiste Rousseaus), zum anderen aber auf die Sexualität, die etwa der schönen Hélène und ihrem Bruder Anatole Kuragin in „Krieg und Frieden“, als auch Anna Karenina und dem Fürsten Nechljudow in „Auferstehung“ zum Schicksal wird. Wegen der satirischen Schilderung eines Gefängnisgottesdienstes in „Auferstehung“ wird Tolstoj sogar exkommuniziert. Solch dogmatischer Hang zum Widerspruch, solch unausrottbarer Hang zu einem vorauseilenden Ungehorsam, wie er für Tolstoj von Anfang bis Ende kennzeichnend ist, wäre für Turgenjew undenkbar gewesen. Dostojewskij und Tolstoj wollen ihre Leser belehren, und das dogmatisch. Mit ihren Werken erschaffen sie jeweils einen Denkraum, in dem sie Recht haben.


Will Turgenjew seine Leser belehren? Gewiss nicht in der Weise, wie Dostojewskij und Tolstoj. Turgenjews Menschenbild ist von philosophischer Weltoffenheit geprägt. Er hat in Berlin Philosophie studiert. [4] Von Hause aus gut situiert, kennt er keine finanzielle Not wie Dostojewskij, hat auch nicht vier Jahre in einem sibirischen Zuchthaus verbracht und dort angesichts der Abgründe des Menschlichen zum christlichen Glauben gefunden. Verglichen mit Dostojewskij muss man Turgenjew, den Bewunderer Goethes und Schopenhauers, einen Atheisten nennen. Allerdings ohne polemischen Nebensinn, ganz im Sinne Kants und Heideggers oder auch Tschechows. Man könnte Turgenjew als einen pessimistischen Menschenfreund charakterisieren. Nichts Menschliches ist ihm fremd. Und er will aufklären, es geht ihm um Einsicht in das, was ist. Aus Anlass seiner Erzählung „Eine seltsame Geschichte“ von 1870, worin es um die Erscheinung eines Verstorbenen geht (ganz wie im „Neuen Gespensterbuch“ eines Theodor Storm, der sich zum Atheismus bekannte und keinen Priester an seinem Grab wünschte), erhielt Turgenjew einen Brief des Inhalts:

 

„Jemand, der Sie nicht kennt und nur ganz bestimmte Ihrer Werke liest. Könnte Sie für einen Mystiker halten.“ Gemeint sind neben der „Seltsamen Geschichte“,  die   „Visionen“  und   die  „Geschichte des Leutnants Jergunow“.

 

 Turgenjew aber schreibt entrüstet zurück, am 25. Januar 1870 aus der Thiergartenstrasse 3 in Baden-Baden an Michail Awdejew:

 

 „Sie finden, dass ich mich vom Mystizismus hinreißen lasse und führen als Beispiel diese ‚Geschichte‘, die ‚Visionen
und den „Jergunow‘ an ( obwohl ich beim besten Willen nicht verstehe, was denn an ‚Jergunow‘ mystisch sein soll, denn – was ich darstellen wollte, war doch das Unmerkliche des Übergangs von Wirklichkeit in den Traum, das kennt doch jeder)-- ich kann Ihnen jedoch versichern, dass mich nur eine einzige Sache und nichts anderes interessiert: die Physiognomie des Lebens und deren wahrhafte Wiedergabe (fizionomija zhizni i ee pravdivaja peredatscha); dem Mystischen aber in all, seinen Forrmen stehe ich völlig gleichgültig gegenüber -- und in der Fabel der ‚Visionen‘ habe ich nur eine Möglichkeit gesehen, eine Reihe von Bildern vorzuführen.“ [5]

 

Das sind deutliche Worte, die mit der Unterstellung, Turgenjew habe ein Faible für das Mystische, ein für allemal aufräumen. Das Stichwort „Physiognomie des Lebens“ enthält, recht verstanden, ein ganzes Programm des Erzählwürdigen. Der Dichter muß für alles offen sein: für den Aberglauben und für die Vernunft.


Um das poetische Universum Turgenjews angemessen wahrzunehmen, müssen wir uns auf seine Wellenlänge einstellen und uns nicht durch Erwartungshaltungen, die uns von anderen Autoren seiner Epoche nahegelegt werden, auf Abwege führen lassen. Turgenjews literarische Texte erfordern ganz spezifische Antennen, die in unserer Innenwelt aufgestellt sind und nicht in der Außenwelt. Seine Dichtung hat ihr wahres Medium in innerseelischen Vorgängen, für die die dargestellte Außenwelt nur die anders nicht möglichen Veranschaulichungen liefert. Um dem zu entsprechen, muß man allerdings durchaus nicht Literaturwissenschaft studiert haben, sondern nur dem natürlichen Verstehen ungestört Folge leisten. Diese Überlegung gilt allerdings für alle Dichtung, muß aber für Turgenjew besonders betont werden, weil sein Gesamtwerk zur Epoche des Realismus gehört. Der Realismus aber hat einen sehr simplen Leser als Zielgruppe, nämlich den sensationslüsternen Zeitungsleser, der für eine allegorische Lektüre keinen Sinn hat.


Was die Profilierung Turgenjews durch Abgrenzung von seinen zeitgenössischen Kollegen Dostojewskij und Tolstoj anbelangt, so bleibt noch zu erwähnen, dass Turgenjew wie auch Tolstoj eine Reihe von Bühnenstücken hinterlassen haben, die sich aber in beiden Fällen nicht durchgesetzt haben und mit den vier großen Bühnenstücken Anton Tschechows nicht konkurrieren können. Nur „Ein Monat auf dem Lande“ findet immer wieder zur Bühne (seit 1984 auch als Oper von Lee Hoiby, USA) und gilt literarhistorisch als eigenständiger Schritt in Richtung der offenen Form Tschechows. [6]

 

Für Turgenjew ist typisch, dass er enge freundschaftliche Beziehungen zu nicht-russischen Kollegen geknüpft hat: Man denke an Henry James, Theodor Storm, Gustave Flaubert, Guy de Maupassant. Nebenbei sei vermerkt: alles Atheisten. Auf Deutsch liegt inzwischen auch Turgenjews Briefwechsel mit Gustave Flaubert vor, zuvor war der Briefwechsel mit Theodor Storm erschienen. [7]

 

Dostojewskij war zu solchen Beziehungen offenbar unfähig. Trotz seiner mehrfachen Reisen in den Westen hat er Russland im Geiste niemals verlassen. Sein einziges Werk, dessen Schauplatz nicht in Russland liegt, ist „Der Spieler“, der in Baden-Baden spielt, das er mit Bad Homburg und Wiesbaden zu einem geographischen Patchwork fusioniert, das er Roulettenburg nennt.


Von Turgenjew aber spielt „Am Vorabend“ teilweise in Venedig, „Rauch“ in Baden-Baden, “Frühlingswogen“ in Frankfurt am Main sowie in Wiesbaden und „Asja“ in Sinzig am Rhein. Alles internationale Episoden, darin verwandt mit manchen Romanen und Erzählungen von Henry James. Man denke nur an „Daisy Miller.“ Turgenjews Öffnung nach Westen impliziert seine liberale Gesinnung, die auch sein Menschenbild prägt. Er ist damit zweifellos der Modernste im Dreigestirn des russischen Romans. In der Forschungsliteratur kommt dies dadurch zum Ausdruck, dass sich niemand gezwungen sieht, den Künstler Turgenjew vom Ideologen zu trennen, was aber immer der Fall ist, wenn jemand zum Gesamtwerk Dostojewskijs oder Tolstojs Stellung bezieht. So distanziert sich etwa Sigmund Freud in seiner Abhandlung „Dostojewskij und die Vatertötung“ von 1928 vehement vom „engherzigen russischen Nationalismus“ Dostojewskijs, lobt aber die „Brüder Karamasow“ als den „großartigsten Roman, der je geschrieben wurde.“ Und Thomas Mann scheut sich nicht, „Tolstojs Moralismus“ als eine „Riesentölpelei“ anzuprangern, hat aber zuvor „Anna Karenina“ den „größten Gesellschaftsroman der Weltliteratur“ genannt. Beidemal wird das hohe Lob mit einem rituellen Fußtritt verknüpft. Turgenjew löst eine solche Reaktion nicht aus. Um Turgenjew als Künstler zu würdigen, sind distanzierende Präambeln, die den Künstler vom Ideologen trennen sollen, nicht nötig.


Er ist so, wie er ist, Element des modernen Bewusstseins, Element unserer Zeit, unserer Gegenwart. Integrierende Vernunft ist sein Wesen. Darin aber ist er Künstler so, wie der Held in James Joyces „Jugendbildnis des Dichters“ zum Künstler wird und sich damit jeder „konfessionellen“ Reduktion des Blicks auf das Leben widersetzt, so dass „Epiphanie“ zu einem rein säkularen Begriff wird. Von einer ästhetischen Entschärfung der Wirklichkeit kann dabei keine Rede sein.


Von den Schriftsteller-Kollegen, die Turgenjew gewürdigt haben, möchte ich drei besonders hervorheben: Henry James, Ernest Hemingway und Joseph Conrad. Henry James, ein Meister in der handwerklichen Würdigung seiner Kollegen, unter ihnen Dickens, Balzac, Flaubert, Zola, schreibt in seinem Eintrag über „Turgenev“ von 1897 in Band 25 der „Library of World’s Best Literature“:

 

 „Turgenjew ist in einem besonderen Grade das, was ich einen Dichter für Dichter nennen möchte, ein künstlerischer Einfluss außerordentlichen Ranges und unumstößlich da.“[8]

 

Man beachte die durchaus irritierende Formulierung „ein Dichter für Dichter“ (englisch: a novelists‘ novelist). Das heißt doch nichts anderes, dass den wahren Rang Turgenjews nur jemand vom Fach einsehen kann, jemand, der selber das Handwerk des Schreibens erlernen will oder schon erlernt hat. Turgenjew ist ein derartiger Meister der literarischen Konstruktion, dass nur ein Leser, der sich mit dem Handwerk des Schreibens vertraut gemacht hat, seine Vorzüge, die Intelligenz seiner Verständnislenkungen zu würdigen weiß. Etwas für Kenner, und nur für Kenner. Und tatsächlich hat später Ernest Hemingway, der ganz junge Hemingway, Turgenjew gelesen, um, sein Handwerk des Schreibens zu „studieren“ und zu vervollkommnen. „Die Aufzeichnungen eines Jägers“ sind es, die sich Hemingway bei Sylvia Beach aus der Buchhandlung „Shakespeare and Company“ in Paris entliehen hat und sie mitnimmt in sein Hotel in Schrunz. Zwei Bände auf Englisch, „A Sportsman’s Sketches“, übersetzt von Constance Garnett. Von dort schreibt er am 20. Dezember 1925 folgenden Brief an seinen Schriftsteller-Kollegen Archibald Mac Leish:

 

„Ich lese hier unten die ganze Zeit. Turgenjew ist für mich der größte Schriftsteller, den es jemals gegeben hat.. Schrieb nicht die größten Bücher, war aber der größte von allen. Jedenfalls für mich. Hast Du von ihm jemals die Kurzgeschichte ‚Es rattert‘ gelesen (The Rattle of Wheels). Befindet sich im zweiten Band der Aufzeichnungen eines Jägers (A Sportsman’s Sketches).“[9]

 

Hemingway fährt dann fort mit der Bemerkung, es wäre zu wünschen gewesen, dass Turgenjew „Krieg und Frieden“ überarbeitet hätte. „Es rattert!“, die zweitletzte der Geschichten in den „Aufzeichnungen eines Jägers“ beschwört die Präsenz des plötzlichen Todes durch einen auf freiem Feld in einer nebligen Mondnacht sich nähernden und vorbeiratternden Bauernwagen, der kurz hält, auf dem möglicherweise die betrunkenen Mörder eines Gutsbesitzers Reißaus nehmen, die ohne weiteres auch den zufällig anwesenden Erzähler in seinem Reisewagen (russisch: „tarantas“) samt Kutscher ermorden könnten. Das lässt an Hemingways berühmteste Kurzgeschichte „Die Killer“ denken“, deren Erzähler, Nick Adams, ebenfalls zwei Mördern begegnet ist (was ihm erst hinterher klar wird), die dann auf Nimmerwiedersehen aus seinem Blickfeld verschwinden. Auch bei Hemingway befinden wir uns hier plötzlich mitten in den „Aufzeichnungen eines Jägers“. Henry James vergleicht diesen Zyklus,, was die Schilderung der Leibeigenschaft betrifft, mit „Onkel Toms Hütte“ von Harriet Beecher Stowe, fügt aber hinzu, die „Aufzeichnungen eines Jägers“ hätten unter dem Zaren Alexander II zwar genau so dem Gebot der Stunde entsprochen wie „Onkel Toms Hütte“ 1852 vor Beginn des amerikanischen Bürgerkriegs, Turgenjew habe jedoch seine sozialkritische Botschaft mit einer Kunst präsentiert, „so hinterlistig (insidious), dass sie auf den ersten Blick nicht zu bemerken sei, einer Kunst, die mehr die Tiefen aufrührt als die Oberfläche“. Die „Aufzeichnungen eines Jägers“ lassen, so Henry James, in ihrer „Zärtlichkeit, ihrem Humor, ihrer Vielfalt einen Beobachter von ganz seltener Einbildungskraft erkennen“ [10], der sich, hineingeboren „in ein repressives soziales und politisches System,“ mit seinen innersten Instinkten, seiner „moralischen Leidenschaft“ ganz auf der liberalen Seite platzierte. [11] Joseph Conrad schließlich (1857-1927), der als polnischer Autor seine sämtlichen Werke auf Englisch verfasste und für Russland nichts übrig hatte, fand für Turgenjew überraschend zutiefst anerkennende, ja überaus lobende Worte. Auch Joseph Conrad hebt die „Aufzeichnungen eines Jägers“ eigens hervor und schreibt dann, in einem „Brief“ an Edward Garnett im Jahre 1917:

 

„Frauen sind, so kann man sagen, das Fundament seiner Kunst. Russische Frauen. Niemals war ein Schriftsteller so zutiefst national und das mit ganzer Seele. Für nicht-russische Leser aber ist Turgenjews Russland nur eine Leinwand, auf die der unvergleichliche Künstler der Humanität seine Farben und Formen aufträgt im großartigen Licht und der frischen Luft der Welt. Hätte er all seine Personen nur erfunden und auch jeden Stock und Stein, jeden Bach und Hügel und jedes Feld, worin sie sich bewegen, sie wären genauso wahr und beeindruckend in ihren erstaunlichen Lebensumständen. Sie gehören ganz ihm und sind gleichzeitig universell. Jeder kann sie akzeptieren ohne Wenn und Aber wie die Italiener eines Shakespeare.


Im weiten, nicht-russischen Horizont ist es Turgenjews tiefe Humanität, die ihn für die englischsprechende Welt so sympathisch werden lässt. All seine Geschöpfe, glückliche und unglückliche, Unterdrücke und Unterdrücker sind menschliche Wesen, nicht seltsame Kreaturen in einer Manege oder verfluchte Wesen, die sich gegenseitig die Köpfe einschlagen in stickiger Dunkelheit mystischer Widersprüche.“ (Zweifellos ein Seitenhieb gegen Dostojewskij). „Sie (Turgenjews Gestalten) sind menschliche Wesen, fähig zu leben, zu leiden, zu kämpfen, zu gewinnen, zu verlieren im endlosen und inspirierenden Spiel, das Tag für Tag die entweichende Zukunft verfolgt.“

 

Und Joseph Conrad kommt zu dem Schluss:, die Öffentlichkeit verhalte sich gegenüber Turgenjew, diesem Mann von „absoluter Vernünftigkeit und tiefster Sensibilität, (…)von rücksichtsloser Einsicht und abgeklärter Hochherzigkeit des Urteils, von exquisiter Wahrnehmung der sichtbaren Welt und einem untrüglichen Gespür für das Bedeutende, für das Wesentliche im Leben von Mann und Frau, von schärfstem Verstand und wärmsten Herzen, zutiefst mitfühlend -- und all das vollendet maßvoll“-- gegenüber einem Mann von solchem Charakter verhalte sich die Öffentlichkeit aber, so Joseph Conrad, wie die Menschenmenge auf dem Jahrmarkt. Wohin streben die meisten Leute im Raritätenkabinett? Nicht zu Antinous, einem Jüngling von bemerkenswerter Schönheit, Günstling des Kaisers Hadrian. Sondern zu „einer Nachtigall mit zwei Köpfen“ und einer riesenwüchsigen Missgeburt, die „knielahm mit einem Pferdegeschirr um den Hals die Zuschauer angrinst“. So geht es zu in der Welt. [12]


Ein abgründiger Gedanke, den uns Joseph Conrad hier anbietet. Die positiven EigenschaftenTurgenjews stehen seiner objektiven Würdigung gerade im Wege .Der Jahrmarkt will etwas anderes: die Sensation, die Zerrformen des Menschlichen, Mord und Totschlag, überzogene Strafpredigten. Hauptsache maßlos.
Meine Damen und Herren: wir haben es hier mit einem grundsätzlichen rezeptionspsychologischen Problem zu tun. Offensichtlich finden maßlose Provokationen mehr Gehör als liberales Denken. Bereits Dmitrij Mereschkowskij hat Turgenjew in dieser Perspektive in den Blick genommen. Ja, wir dürfen heute fragen, ob nicht Turgenjews Geisteshaltung, die auch sein literarisches Schaffen prägt, überhaupt erst heute, in unserer Gegenwart, voll zur Geltung kommen kann: nach der historischen Erfahrung zweier Weltkriege und dem Zusammenbruch der totalitären Staaten in Europa.


Dmitrij Mereschkowskij, Kulturphilosoph und Verfasser historischer Romane, darunter der Bestseller „Leonardo da Vinci“, veröffentlichte 1896 sein Buch „Ewige Gefährten“ (russisch: „Vechnye sputniki“), das Einzelporträts von Persönlichkeiten aus Geschichte und Gegenwart präsentierte, als Anregung und Belehrung, auch für jugendliche Leser. 1915 erschien das Werk auf Deutsch im Piper Verlag, München, übersetzt von Alexander Eliasberg. (Karl Jaspers hat Ähnliches unternommen unter dem Titel „Die maßgebenden Menschen: Sokrates, Buddha, Konfuzius, Jesus“, und Ralph Waldo Emerson veröffentlichte 1850 seine „Repräsentanten der Menschheit: Plato, Swedenborg, Montaigne, Shakespeare, Napoleon, Goethe“. Wir haben es mit einer literarischen Gattung zu tun, deren Anfänge bei Plutarch liegen.) Als „Ewige Gefährten“ bietet Dmitrij Mereschkowskij an: Mark Aurel, Plinius der Jüngere, Cervantes, Montaigne, Goethe, Byron, Flaubert, Turgenjew, Dostojewskij, Gontscharow, Puschkin (in dieser Reihenfolge). Über Turgenjew heißt es einleitend:

 

„In Russland, im Lande eines jeglichen, religiösen und revolutionären Maximalismus, im Lande der Selbstverbrennungen, der wildesten Extreme, ist Turgenjew neben Puschkin wohl das einzige Genie des Maßes und folglich auch ein Genie der Kultur. Was ist denn die Kultur anderes, als ein Messen, Aufspeichern und Erhalten von Werten?


In diesem Sinne ist Turgenjew, im Gegensatz zu den großen Erbauern und Zerstörern Tolstoj und Dostojewskij, unser einziger konservativer Dichter und, wie jeder echte Konservative, zugleich auch (ein) Liberaler. Oder, wenn wir die heutige politische Ausdrucksweise verwenden, so ist Turgenjew im Gegensatz zu den Maximalisten Tolstoj und Dostojewskij, unser einziger Minimalist.


Darin liegt seine unvergängliche Wahrheit. Denn, wie sehr wir auch die Minimalisten als Vertreter der ‚Bourgeoisie‘ verachten, können wir ohne sie doch nicht auskommen; ohne sie könnten sich auch die Maximalisten unmöglich halten. Vielleicht ist unsere Revolution daran misslungen, weil es in ihr zu viel russische Unmäßigkeit und zu wenig europäische Mäßigung, zu viel Tolstoj und Dostojewskij und zu wenig Turgenjew gab.


Der Genius des Maßes ist der Genius von Westeuropa. Turgenjew war auch der erste russische Dichter, den Europa kennengelernt und begriffen hat. Auch Tolstoj und Dostojewskij genießen zwar eine große europäische Berühmtheit, doch ihre letzte russische Tiefe wird dem Westeuropäer stets fremd bleiben. Sie erschüttern den Ausländer und setzen ihn in Erstaunen, doch Turgenjew bezaubert ihn. Die Europäer betrachten Turgenjew als den ihrigen. Als sie ihn kennen lernten, begriffen sie, dass Russland zu Europa gehört.


Das Maß aller Maße ist die Schönheit. (…)Turgenjew ist der Dichter der Schönheit und der Verliebtheit.“

 

 Und zum Schluss heißt es:

 

„Puschkin gab allem Europäischen ein russisches Maß. Turgenjew gibt allem Russischen ein europäisches Maß. Turgenjew konnte aber das, was Russland mit Europa verbindet, noch nicht deutlich genug erkennen. Wir aber erkennen es schon, oder werden es jedenfalls bald erkennen.“[13]



In solchen Worten Dmitrij Mereschkowskijs von 1896 formiert sich bereits, so dürfen wir heute sagen, die Grundlage für eine angemessene Perspektive, das Oeuvre Turgenjews betreffend Und um seine Ansicht zu illustrieren, beschäftigt sich Mereschkowskij mit nur einem einzigen Text Turgenjews: der Erzählung „Eine lebende Reliquie“ aus den „Aufzeichnungen eines Jägers“ und vertritt die überraschende These: Lukerja, die Titelgestalt, sei das Urbild aller Frauen, die Turgenjew gestaltet habe und lasse auch Turgenjews Psychologie der Liebe exemplarisch erkennen. [14]


Sehen wir uns die Erzählung etwas näher an, denn es ist ja das Ziel meiner heutigen hier vorgetragenen Überlegungen, eine Antwort auf die Frage zu finden, was denn von Turgenjews literarischer Hinterlassenschaft in unserer Zeit noch lebendig ist. Zweifellos die „Aufzeichnungen eines Jägers“ sowie der Roman „Väter und Söhne“ ,die Erzählung „Erste Liebe“ und auch seine Art der „Gedichte in Prosa“. Auch seine Abhandlung „Hamlet und Don Quijote“ soll noch zu Wort kommen. Zu diesen Texten nun einige Details, bis ich mit einer Anmerkung zu Litwinow und Irina im Roman „Rauch“ zum Schluss komme.


„Eine lebende Reliquie“ ist zweifellos einer der sonderbarsten Texte Turgenjews, ja der gesamten russischen Literatur. Es wird hier die Lebenswelt einer behinderten jungen Frau gestaltet, die in einem dunklen Schuppen bewegungsunfähig darniederliegt und ihre eigene Situation gegenüber unserem Erzähler, dem „Jäger“, feinsinnig reflektiert. Turgenjew ist hier in realistischer Einkleidung eine allegorische Darstellung der Geburt des Christentums gelungen,. die sich an Begriffsschärfe und Tiefsinn nur noch mit Dostojewskijs Legende vom „Großinquisitor“ in den „Brüdern Karamasow“ (Buch 5, Kap. 5). vergleichen lässt. In beiden Erzählungen tritt Christus auf, mit dem Unterschied allerdings, dass „Eine lebende Reliquie“ von einem Atheisten konzipiert wurde, der „Großinquisitor“ aber von einem missionarischen Christen.


Hier die realistische Ebene der „Lebenden Reliquie“: Lukerja, 22 Jahre alt, die „Schönste“ vom „ganzen Hofgesinde“, ein großes stattliches Mädchen mit weißer Haut und roten Wangen, das so gern lacht, tanzt und singt, wird von ihrer Herrin mit Wassilji Poljakow verlobt, einem großen schlanken Burschen mit einem Lockenkopf, der bei der Gutsherrin als Einschenker diente. Und Lukerja erzählt:

 

„Wir hatten uns sehr lieb, Wassilij und ich; ich musste immerzu an ihn denken. Es war Frühling. Und eines nachts, -- es war nicht mehr weit bis zum Morgengrauen, – da konnte ich nicht schlafen. Im Garten sang so wunderbar süß die Nachtigall. Ich hielt es nicht aus, ich stand auf und ging auf den Altan hinaus, um ihr zu lauschen. Sie singt und singt …Und plötzlich ist mir, als rufe mich jemand mit Wassjas Stimme, ganz leise: ‚Luscha…!‘ Ich blicke zur Seite, aber weil ich noch halb im Schlafe war, bin ich wohl fehlgetreten, ich stürzte vom Altan hinunter --- und schlug hart auf den Boden auf.“ [15] (Ja gljad‘ v storonu, da, znat‘, sproson’ja ostupilas‘, tak prjamo s rundutschka i poletela vniz --- da ó zemlju chlop!)

 

Die Folge davon ist, dass sie innere Verletzungen hat, das Gehen fällt ihr immer schwerer, sie verliert schließlich die Herrschaft über ihre Beine, kann weder stehen noch sitzen, will immer nur liegen. leidet an Appetitlosigkeit, will weder essen noch trinken, die Ärzte stehen vor einem Rätsel, und da ein Krüppel im, herrschaftlichen Hause nicht bleiben kann, wird sie auf dem Vorwerk der Gutsherrin in diesem Schuppen gebracht, wo sie mithilfe ihrer Verwandten dahinlebt. Als der Erzähler sie trifft, und wir, die Leser mit ihm, befindet sie sich schon sieben Jahre in diesem elenden Zustand:

 

„Der Kopf war völlig ausgedörrt und gleichmäßig bronzefarben, er glich aufs Haar den Ikonen der alten Malschule, die Nase war schmal wie eine Messerklinge, von Lippen war fast nichts zu sehen, nur die Zähne und die Augen schimmerten hell. Unter dem Kopftuch hervor fielen ein paar dünne Strähnen blonden Haares auf die Stirn. Am Kinn regten sich auf einer Falte der Decke zwei winzige, ebenfalls bronzefarbene Hände, deren Finger sich wie dünne Stäbchen langsam bewegten. Ich sah genauer hin: das Gesicht war keineswegs häßlich, man konnte es sogar schön nennen – aber es war schrecklich und ungewöhnlich. Und um so schrecklicher erschien mir dieses Gesicht, als ich sah, wie sich auf ihm, auf den metallischen Wangen ein Lächeln sichtbar zu werden mühte – sich mühte, und doch nicht die Kraft dazu hatte.


‚Sie erkennen mich wohl nicht, gnädiger Herr? ‘flüsterte die Stimme wieder. Sie drang wie ein Hauch aus dem sich kaum bewegenden Mund.“[16]

 

Und der Erzähler erkennt sie wieder, denn er war damals, als er sechzehn war, in sie verliebt, wie viele andere auch. Und das ist nun sieben Jahre her. Die Erzählung endet mit dem Hinweis,, dass Lukerja einige Wochen später gestorben sei. Im Dorf nannte man sie die „lebende Reliquie“, und der Gemeindediener sagt: „Sie wurde von Gott gestraft, wahrscheinlich für ihre Sünden, aber das geht uns nichts an …Wir verurteilen sie nicht.“ Ein Seitenhieb Turgenjews gegen die christliche Kirche und ihren absurden Begriff der Sünde. Warum sollte Lukerja von Gott gestraft werden? Außerdem kam ein Priester zu ihr, dem sie erzählte, ihre verstorbenen Eltern seien als „Erscheinung“ zu ihr gekommen. Der Priester aber winkt ab: das könne nicht sein, weil nur der geistliche Stand Erscheinungen habe. Ein weiterer kommentarloser Seitenhieb des Atheisten Turgenjew. Ihr Verlobter aber, Wassilij Pooljakow, ist zwar sehr traurig, sucht sich aber mit Erlaubnis seiner Gutsherrin bald eine neue Lebensgefährtin, die er heiratet und mit der er drei Kinder hat. Lukerja verzeiht ihm, weil sie ihn verstehen kann und bleibt in ihrer Einsamkeit zurück.


Was hatte Turgenjew mit dieser höchst sonderbaren Erzählung im Sinn? Wie kann Mereschkowskij behaupten, Turgenjew gestalte in diesem halbtoten Wesen mit verdorrtem, bronzefarbenen Gesicht seine Muse? Trotz der realistischen Details haben wir es mit einer allegorischen Konstruktion zu tun. Man beachte die Situation des Sturzes. Turgenjew beschwört eine romantische Frühlingsnacht. Lukerja ist verliebt, denkt an ihren Verlobten, kann vor Sehnsucht nicht schlafen, geht hinaus auf den Altan, meint seine Stimme zu hören, wie er sie ruft, sucht ihn mit den Augen und stürzt ab. Die Idylle ist zu Ende. Ihr Verlobter sucht sich eine andere. Sie bleibt einsam zurück.


Die gleiche Situation finden wir in Turgenjews Erzählung „Erste Liebe“: ein Jüngling von 16 Jahren verliebt sich in eine schöne, junge Frau Anfang zwanzig. Sie scheint im Kreis ihrer Verehrer etwas für ihn übrig zu haben. Plötzlich muß er feststellen, dass sie die Geliebte seines Vaters ist. Die Idylle ist zu Ende: Absturz.. Oder, in Turgenjews Erzählung „Drei Begegnungen“: Ein junger Mann, allein auf Reisen in Italien, sieht sich in einer mondhellen Sommernacht auf seinem Heimweg ins Hotel von einer jungen Frau, die aus dem plötzlich weit geöffneten Fernster eines Pavillons auf die Straße blickt, für ihren Geliebten gehalten. Sie streckt beide Hände zu ihm hin, bemerkt aber sofort ihren Irrtum und zieht sich mit leichtem Aufschrei zurück. Wenige Augenblicke später erscheint ihr tatsächlicher Geliebter und wird von ihr hereingelassen. Illusion und Absturz hier ganz dicht bei einander. Der Erzähler glaubt, sie zwei Jahre später in Russland wiederzusehen, was sich aber als Irrtum erweist .Die Pointe: Der Erzähler hält seinem Traumbild die Treue, das die erste Begegnung mit der schönen Unbekannten im Licht des Mondes in seine Seele gepflanzt hat, und bleibt Junggeselle.  Dahinter steht die Einsicht in die Hinfälligkeit des Liebesglücks. Junggeselle bleibt auch der Erzähler der „Ersten Liebe“. Dmitrij Mereschkowskij sieht diese Kontinuität im Werk Turgenjews mit aller Deutlichkeit, und er fasst zusammen, die weiblichen Schicksale betreffend:

 

„Es ist immer wieder ein anderer und nicht Wassja, der die Turgenjewschen Frauen und Mädchen mit Wassjas Stimme ruft. Ein anderer ruft Lisa im „Adelsnest‘, und sie geht ins Kloster. Auch Helene, Marianne, die „Unglückliche“ und Klara Militsch vernehmen den gleichen Ruf. Sie gleiten auf einer geheimnisvollen Altane aus, stürzen und fallen sich tot.“[17]


Solche Konstruktion hat System und ich kann nicht genug betonen: Man ehrt einen Dichter nicht dadurch, dass man ihn lobt, sondern dadurch, dass man nachvollzieht, was er gedichtet hat. Dichten aber ist immer auch Denken, ein Denken in Bildern, ein Denken in Charakteren und Handlung. Die Auseinandersetzung mit der „Lebenden Reliquie“ versetzt uns, aufgrund der so ungewöhnlichen Situation, die darin gestaltet wird, auf besondere Weise in Turgenjews Denkraum. Der Begriff „Reliquie“ definiert sich als körperlicher Überrest eines Heiligen. Lukerja erleidet exemplarisch den Verlust von Glück und Gesundheit, wird als Dulderin von den Dorfbewohnern verehrt. . Dass sie als körperlicher Überrest dessen, was sie mal war, vor Augen gebracht wird, ist ein Stenogramm der Vergänglichkeit. Sie lebt, fühlt und denkt nicht nur, sondern gelangt durch ihre Unfähigkeit, am Leben der Umwelt teilzunehmen, zu einer neuen Aufmerksamkeit gegenüber den unscheinbaren Dingen, ,eine Aufmerksamkeit und Bejahung, die dem gesunden und tätigen Menschen abhanden gekommen ist. Aber nicht nur das: sie hat auch sehr lebendige, intensive Träume, kompensiert mit ihren Träumen das, was ihr die Wirklichkeit vorenthält.


Im Traum hört sie erneut, dass Wassja, ihr Verlobter, nach ihr ruft. Aber nicht er kommt, sondern Christus selbst:

 

“Woran ich erkannte, dass es Christus war, kann ich nicht sagen – er wird so nicht gemalt –aber er war es! Bartlos, hochgewachsen. jung ganz in Weiß, nur der Gürtel golden, und er streckt mir die Hand hin. ‚Fürchte dich nicht,‘ spricht er, ‚meine schöngeschmückte Braut, folge mir nach, du wirst bei mir im Himmel die Reigen anführen und himmlische Lieder singen.‘(…) Seine Flügel breiteten sich über den ganzen Himmel und sie waren lang wie die einer Möwe und ich folgte ihm.“[18]

 

Turgenjew lässt hier den christlichen Glauben nachvollziehbar aus einer konkreten menschlichen Zwangslage hervorgehen. Eine wunderbare Enthebung aus dem Jammertal findet statt. Christus als Bräutigam.


Ein weiterer Traum, den Lukerja erzählt, zeigt sie als heilige Jungfrau, die die Türken mit dem Schwert verjagt und für ihr Volk den Feuertod stirbt: wie Jean d’Arc. In einem anderen Traum, sieht sie sich auf der Pilgerschaft, und eine Frau, die einen Kopf größer ist als die anderen Menschen, kommt mit einem mageren, strengen Gesicht auf sie zu und sagt: „Ich bin dein Tod“. Lukerja erschrickt aber nicht, sondern ist froh. Ihr Tod aber (der im Russischen weiblich ist) sagt zu ihr: „Du tust mir leid, Lukerja! Aber mitnehmen kann ich dich nicht. Leb wohl.“[19]


„Nimm mich mit,“ sagt Lukerja. Und ihr Tod wendet sich um und sagt ihr so undeutlich etwas, dass sie es nicht verstehen kann. Es ist der Zeitpunkt ihres Sterbens. Turgenjew zeigt: hier, dass auch die dichterische Einbildungskraft nicht die Bodenhaftung zur Vergänglichkeit verliert. Mit Lukerja hat Turgenjew gleichsam den inneren Monolog der dichterischen Einbildungskraft gestaltet. Deshalb kann Mereschkowskij Lukerja Turgenjews Muse nennen, macht dies explizit fest an der Äußerung des Erzählers „Sie blickte mich an und senkte wieder ihre dunklen Augenlider mit den goldenen Wimpern, die mich an die Augenlider alter Statuen erinnerten.“ Und Mereschkowskij fragt sich: „Gleicht nicht auch Turgenjews Muse in ihren vollkommensten und bedeutungsvollsten Schöpfungen einer alten Statue mit gesenkten Augenlidern? Ihre Augenlider sind gesenkt, weil sie einen wunderbaren Traum sieht.“[20]


Die inhaltliche und formale Vielfalt der „Aufzeichnungen eines Jägers“ ist erstaunlich. Immer wieder geht es Turgenjew um die Darstellung der Ansätze der Enthebung aus der alltäglichen Wirklichkeit. So wird in der Erzählung „Die Sänger“ in tiefster Provinz ein Wettstreit um das schönste Lied in einer Kneipe ausgetragen. Es findet eine regelrecht kollektives Aufgehen in einen Zustand der Begeisterung statt, bis am Ende nichts anderes übrig bleibt, als dass alle sich dem Alkoholrausch ergeben und damit ihre unverwundene Wirklichkeit begraben. Der Erzähler, zu Fuß unterwegs, legt sich todmüde in einer Heuscheuer schlafen. Als er erwacht, ist es Nacht:

 

„Der Himmel wölbte sich klar und funkelte über mir und flimmerte in zahllosen, aber kaum sichtbaren Sternen. Im Dorf blinkten Lichter. Von der nahen hell erleuchteten Schenke drang ein wilder verworrener Lärm herüber (…) Von Zeit zu Zeit brach dort ein wüstes Gelächter los. Ich näherte mich dem Fenster und drückte mein Gesicht an die Scheibe. Ich sah ein  unerfreuliches, wenn auch buntes und lebendiges Bild. Alle waren betrunken. (…) Ich wandte mich ab und stieg raschen Schrittes den Hügel hinunter.“[21]

 

Auch hier wieder der Absturz. Eine völlig andere Stimmung herrscht in der Erzählung „Die Beschinwiese.“ Unser Jäger hat sich verirrt und gelangt in der heraufziehenden Dunkelheit zu einer Gruppe von Bauernjungen aus einem nahen Dorf, die eine Pferdeherde hüten und um ein Feuer sitzen, mit vielen Hunden ringsum. Es sind Kinder, die sich Gespenstergeschichten erzählen, von abergläubischen Vorstellungen geprägte Folklore. Ein „weißer Wolf“ treibt darin sein Unwesen, der Menschen frisst. Und doch herrscht am Lagerfeuer eine zutiefst friedliche Atmosphäre. Der Jäger hört zu. Schließlich schlafen alle ein.

 

„Sogar die Hunde schlummerten, und auch die Pferde lagen, soviel ich bei dem glimmenden schwachen Licht der Sterne wahrnehmen konnte, mit gesenkten Köpfen da. Ich dämmerte vor mich hin und fiel schließlich in einen leichten Schlaf.“

 

 Noch in der Nacht wird der Erzähler wach:

 

„Ich stand rasch auf und ging zu den Jungen. Sie schliefen alle noch wie tot ringsum die schwelende Feuerstätte, nur Pawel richtete sich halb auf und sah mich aufmerksam an. Ich nickte ihm zu und ging längs des dampfenden Flusses nach Hause. (…) Und plötzlich jagte, angetrieben von den Jungen, die ich nun kannte, die ausgeruhte Pferdeherde an mir vorüber.“[22]

 

 Die Erzählung enthält einige der schönsten Naturbeschreibungen, die sich bei Turgenjew finden lassen, und atmet eine seltene Harmonie zwischen Mensch, Tier und Kosmos. Dennoch lautet der letzte Absatz, und darin spricht sich der Systematiker Turgenjew aus, der niemals schläft:

 

„Leider muß ich hinzufügen, dass Pawel noch im selben Jahr ums Leben kam. Er ist nicht ertrunken, er verunglückte tödlich, als er von einem Pferd stürzte. Schade, er war ein prächtiger Bursche.“[23]

 

Nun ein Wort zu Turgenjews Romanen. Es sind sechs, und sie wurden in seiner Zeit als aktuelle Kommentare zur gesellschaftlichen Entwicklung Russlands gelesen;. und tatsächlich vermitteln sie in chronologischer Folge gelesen, die verschiedenen Phasen der gesellschaftlichen Entwicklung von den vierziger Jahren bis zu den siebziger Jahren des 19.Jahrhunderts. Erst allmählich wurde es üblich, sie als Kunstwerke wahrzunehmen, von denen jedes sein eigenes Recht hat und seine eigene fiktionale Welt errichtet, die unabhängig von ihrem jeweils historischen Stellenwert ist, den zu ermitteln, Sache des Historikers ist.


Henry James etwa hatte eine Vorliebe für den Roman „Am Vorabend“ (englisch „On the Eve“), der 1991 den irischen Schriftsteller William Trevor inspirierte, seinen Roman „Reading Turgenev“ zu veröffentlichen, der auf Deutsch 1994 und erneut vor einem Jahr unter dem Titel „Turgenjews Schatten“ erschienen ist. In diesem Roman wird geschildert, wie eine junge Frau in der Ehe mit einem älteren Mann, den sie nicht lieben kann, trübsinnig wird. Schauplatz ist die irische Provinz. Die junge Frau zieht sich ganz in sich selbst zurück und kommuniziert für sehr kurze Zeit ausschließlich mit ihrem todkranken Cousin, der aber ganz plötzlich stirbt. Nach seinem Tod stattet sie ihn in ihrer Phantasie mit den Attributen eines idealen Partners, eines idealen Geliebten aus, geht auf den Friedhof zu seinem Grab, wo sie sich für ihn, den Toten, schminkt. Und im Geiste hört sie immer wieder seine Stimme, wie er ihr, als er noch lebte, aus Turgenjews Roman „Am Vorabend“ vorgelesen hat. Die Passagen die sie jetzt hört, mit seiner Stimme, der Stimme ihres verstorbenen Cousins, werden im laufenden Text des Romans kursiv gedruckt. Die Pointe William Trevors besteht darin, dass seine Heldin nur in Erinnerung an die Momente, als ihr Cousin ihr Turgenjew vorlas, glücklich ist. Diese Momente werden ihr als wiedergefundene Zeit zum Kostbarsten, was sie hat. Turgenjews Held, Dmitrij Insarow (ein emigrierter bulgarischer Revolutionär, der in Venedig stirbt), wird der irischen Heldin zum Katalysator ihrer Träume. Turgenjew hat hier eine höchst ungewöhnliche Nachfolge gefunden. [24]


Noch ungewöhnlicher aber ist zweifellos die Wirkung seines bekanntesten Romans, „Väter und Söhne“ (erschienen 1862) auf die amerikanische Literatur. Der Roman war im Jahre 1900 in New York auf Englisch unter dem Titel „Fathers and Sons“ erschienen, übersetzt von Edward Garnett (dem Joseph Conrad seinen soeben von mit zitierten Brief über Turgenjew schrieb)..Der Amerikaner Owen Wister (1860-1938) lässt Turgenjews Helden Jewgenij Basarow zum Vorbild der Hauptperson seines bis heute ungemein populären Romans „The Virginian. A Horseman of the Plains“ werden, der 1902 erscheint und den amerikanischen Western-Helden in realistischem Milieu neu fixiert: als tatkräftigen, von einem untrüglichen Gerechtigkeitssinn geprägten Charakter. Mehrfach verfilmt, 1929 mit Gary Cooper in der Titelrolle, hat Owen Wisters Basarow-Adaption regelrecht Karriere gemacht. Stichwort: Turgenjew im Wilden Westen. In Owen Wisters Roman sieht das so aus, dass der „Mann aus Virginia“ sich in Wyoming Ende der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts mit einer Schullehrerin aus dem Osten anfreundet, die ihn, den Cowboy, mit verschiedenster Lektüre versorgt.. Jane Austen legt er beiseite, sie versetzt ihn in Tiefschlaf, Von Othello will er nichts wissen. „Kein Mann sollte so etwas zu Papier bringen“. „Väter und Söhne“ aber versetzen ihn in Begeisterung. Er möchte auch so sein wie Basarow, dessen Schicksal er bedauert. und fragt, ob sie von diesem Autor noch andere Bücher habe, was leider nicht der Fall ist. [25]


Mit Jewgenij Basarow, dem Repräsentanten der jungen Generation, hat Turgenjew die am meisten diskutierte Gestalt seiner Romane geschaffen. Basarow und seine Mitstreiter vertreten den „Nihilismus“ und verstehen darunter die Ablehnung aller konventionellen Werte: die Lyrik Puschkins und Goethes, Raffaels „Sixtinische Madonna“ bringen keinen Nutzen. Liebe, Freundschaft und sogar die Musik eines Mozart, eines Franz Schubert werden als Ausdruck überflüssiger Empfindsamkeit verspottet. An ihre Stelle treten die Werke Ludwig Büchners, Justus Liebigs, Karl Vogts und die Verherrlichung des naturwissenschaftlichen Fortschritts. Wie Peter Thiergen präzisiert hat, reicht Turgenjew mit seinem Roman „Väter und Söhne“ einen gewandelten Nihilismus-Begriff in Multiplikatorfunktion an Nietzsche weiter, nachdem zunächst Jean Paul für diesen Begriff in Russland die Vermittlerrolle gespielt hatte. [26]


Die Frage, wie Basarow von Turgenjew selber gemeint war, wird vom Text eindeutig beantwortet: Basarow stirbt an einer Blutvergiftung, wodurch der Fortschritt in der medizinischen Wissenschaft seine tödliche Grenze erfährt. Aber nicht nur das: Zuvor muß Basarow, von tiefer Liebe zu Frau Odinzowa überwältigt, die Nichtigkeit seiner materialistischen Physiologie der Begierde erleben: „Erst im Augenblick des Todes erschloss Basarow dem Lächeln der Geliebten sein Herz und beugte sich der Macht der Liebe“, so Adolf Stender-Petersen in seiner immer noch bemerkenswerten „Geschichte der russischen Literatur.“ [27]

 

Mit dem Roman „Väter und Söhne“ traf Turgenjew einen Nerv des öffentlichen Interesses im zeitgenössischen Russland: indem er den kulturschaffenden Konflikt der Geschlechterfolge in Charakteren und Handlung zum Ausdruck gebracht hat. Das Resultat ist ein faszinierendes Bild der geistigen Situation seiner Zeit. Zentrum Russland, aber mit europäischem Horizont (in den sogar James Fenimore Coopers „Pfadfinder“ eingezeichnet wird). Die modernen Ideen stehen zur Debatte, mit Ludwig Büchners „Kraft und Stoff“ an der Spitze. Von Bunsen in Heidelberg ist die Rede. Physik statt Metaphysik. Fort mit Puschkin, Mozart und Raffael. Die Natur ist eine Werkstatt und kein Ort romantischer Betrachtung. Turgenjews Konzeption aber lässt weder die „Väter“ noch die „Söhne“ ungeschoren. Beide haben sie Recht, und doch auch wieder nicht. Ein Sprachrohr des Autors gibt es nicht, wohl aber satirische Kennzeichnungen. Der Leser muß die ausgesparte Mitte des Vernünftigen selber finden. Das aber macht die Lektüre so spannend. Der weltanschauliche Zweikampf zwischen Pavel Kirsanow (= „Väter“) und Jewgenij Basarow (= „Söhne“) mündet in ein tatsächliches Duell mit Pistolen. Die Realität wird vor unseren Augen zur Allegorie. Keiner wird erschossen, Pawel Kirsanow allerdings leicht verletzt.. Das ist der gedankliche Höhepunkt des Romans, ein Höhepunkt,, eingelagert in die „Maß“-gebende und unglückliche Liebesgeschichte zwischen Basarow und der Odinzowa.


Internationales Echo bleibt nicht aus: französische Übersetzung 1863 (mit einem Vorwort von Prosper Mérimée), erste deutsche Übersetzung 1865 (mit Turgenjews Bekenntnis zu „Deutschland“ als seinem „zweiten Vaterland“ in seinem auf Deutsch verfassten Vorwort), erste englische Übersetzung 1867. Hohes Lob spenden Tschechow, Fontane, Storm, Hesse und Thomas Mann, ja sogar der unberechenbare Nabokov. Ist es der Reiz des negativen, „nihilistischen“ Helden, der die Gemüter erregt und Zustimmung wie Abneigung provoziert, hier aber gerade kein „überflüssiger Mensch“ ist wie Puschkins Onegin oder Lermontows Petschorin und am Zufall einer Blutvergiftung sinnlos zugrunde geht? Ein offener Schluss eigener Art, wenn auch das letzte Kapitel, als ein für Turgenjew typischer Epilog, die Schicksale zusammenfasst und eine sachgerechte Interpretation auf den Weg bringt. Der Leser wird auf sich selbst verwiesen, und das gehört zur Verständnislenkung des Autors.


1860 erscheint Turgenjews inzwischen bekannteste Erzählung „Erste Liebe“. [28] Der gesellschaftliche Hintergrund tritt in gezielter Reduktion in Erscheinung und ist damit für den heutigen Leser nur ein sofort begreifbarer Vorwand für die Veranschaulichung überzeitlicher Sachverhalte. Zentrum ist das Thema des Titels. Im engsten Freundeskreis erzählt „ein Mann von etwa vierzig Jahren mit schwarzem, graumeliertem Haar,“ Junggeselle, von seiner ersten Liebe, die eine unglückliche Liebe gewesen ist.. Ich möchte behaupten, wer noch nichts von Turgenjew gelesen hat und nur diese eine Erzählung liest, könnte mich Recht sagen, er kenne Turgenjew. Er wird aber auch, wie der Mann aus Virginia, fragen, ob dieser Autor noch andere Geschichten geschrieben hat.


Turgenjew schildert hier die Liebe des sechzehnjährigen Wladimir (= Wolodja) zur einundzwanzigjährigen Sinaida. Diese erste Liebe Wolodjas verläuft unglücklich. Die Darstellung geschieht in der Ichform. Wolodja erzählt. Turgenjew lässt einen Erzähler sprechen, der gleichzeitig als ein unmittelbar erlebendes Ich und ein fünfundzwanzig Jahre später sich erinnerndes Ich vor uns hintritt. Das erlebende Ich des sechzehnjährigen Wolodja weiß noch nicht, dass es der Vergänglichkeit ausgeliefert ist. Erst das reflektierende Ich des sich erinnernden Erzählers weiß das, und seine Trauer über die Vergänglichkeit ist die größere Trauer, verglichen mit der damaligen Trauer über die Unerreichbarkeit Sinaidas. Die Qual der unerfüllten Liebe wird aber in der Erinnerung zum, erfüllten Augenblick, weil sie erst jetzt, wo die „abendlichen Schatten auf das Leben fallen“, als das erfasst wird, was sie tatsächlich gewesen ist: der Augenblick intensivster Daseinserfahrung, geprägt von Illusion und Realität gleichermaßen.


Turgenjew entwickelt in dieser Erzählung auf engstem Raum eine Phänomenologie der Liebe, vergleichbar mit Stendhals großem Essay „Über die Liebe“ (De l’Amour) aus dem Jahre 1822. Am Anfang steht die Disposition zur Liebe ohne konkretes Objekt:

 

„Mein Blut pulste ungestüm, und mein Herz war voll süßer und unsinniger Sehnsucht. Ich erwartete ständig etwas, und zugleich hatte ich Angst davor; ich wunderte mich über alles und war zu allem bereit; meine Phantasie spielte und kreiste lebhaft um ein und dieselben Vorstellungen wie Schwalben im Morgenrot um einen Kirchturm (…) Ich entsinne mich, dass mir damals keine bestimmet Frauengestalt vorschwebte und meine Träume von weiblicher Liebe nie feste Umrisse gewannen. Aber in allem, was ich dachte und fühlte, verbarg sich die nur halbbewusste, schamhafte Vorahnung von etwas Neuen, unsagbar Beglückendem, Weiblichen. Diese Vorahnung, diese Erwartung durchdrang mein ganzes Wesen. Sie war in jedem Atemzug, sie strömte mit jedem Blutstropfen durch meine Adern – und sollte sich bald erfüllen.“

 

Das ist reinste Lyrik, wenn auch in Prosa. Und schon ist sie da: Sinaida, die Nachbarstochter aus neuer Umgebung, denn Wolodja ist mit seinen Eltern aus der Stadt in eine Datscha gezogen. Die schöne Sinaida ist die Tochter einer Fürstin. Besser geht’s ja gar nicht. Wolodja aber erzählt: „Der Fürstentitel beeindruckte mich nicht . Ich hatte vor kurzem Schillers ‚Räuber‘ gelesen.“ Sinaida aber beeindruckt ihn. Er verliebt sich sofort in sie. Kein Wunder,. Alles in ihm ist ja bereit, um sie in den Himmel zu heben. Mit dieser Anfangssituation hat Turgenjew seinen Leser fest an der Angel und tut nun alles, um das Objekt der Begierde konkret werden zu lassen. Sinaida ist 22 Jahre alt, noch ungebunden, aber umgaben von einem Kreis von Bewunderern, die sie umschwirren wie Motten das Licht. Der Sechzehnjährige wird zu einem eifersüchtigen Beobachter, und der Leser mit ihm. Wolodjas Blick ist auf Zeichen der Zuwendung aus, wird darin auch bestätigt, und doch wird er den Verdacht nicht los, dass da ein anderer insgeheim der Glückliche ist. Nun ist alles vorbereitet für Turgenjews brutale Pointe: Sinaida ist die Geliebte des eigenen Vaters! Damit ändert sich mit einem Schlage Wolodjas Blick auf die Welt und auf sich selbst. Auf die vorgestellte Idylle erfolgt der Absturz in die gnadenlose Realität. Bald darauf kehrt Wolodja mit seinen Eltern „in die Stadt“, das heißt nach Moskau zurück. Es dauert lange, bis er sich von seinem Erlebnis löst, sich wieder an  die Arbeit macht und sich auf sein Studium der Geschichtswissenschaft vorbereitet, .Acht Monate später stirbt sein Vater an einem Schlaganfall. Sinaida, kapriziös, charmant und gewissenlos, hat seinen Vater in den Zustand aggressiver Verzweiflung getrieben und ihm das Herz gebrochen, was Turgenjew im Horizont seines Ich-Erzählers durch sparsamste Aufblicke meisterhaft kenntlich werden lässt. Vier Jahre später stirbt Sinaida an der Geburt ihres Kindes. Das Schicksal hat seine Bausteine wieder einkassiert. Wolodja, der sich an alles erinnert, nun Anfang Vierzig und genauso alt wie sein Vater, als er starb, ruft aus: „O Jugend, Jugend! Sogar die Trauer ist dir Genuss, sogar der Kummer steht dir zu Gesicht.“ Und er fragt sich: was ihm denn geblieben sei, das ihm teurer wäre als die Erinnerung an jenes „schnell vorüber gezogenen morgendlichen Frühlingsgewitters.“ Der ausgezeichnete Augenblick, wie ihn Turgenjew gestaltet, wird erst in der Erinnerung zu dem, was er ist: zur reflektierten Erfahrung der eigenen Existenz. Sinaida aber ist die Muse, die den Erzähler zum Dichter gemacht hat,  indem er seine erste Liebe, die unerfüllt blieb und seine letzte Liebe geblieben ist, schriftlich fixiert. „Erste Liebe“ ist eine Rahmenerzählung, und der Rahmen ist es, der hier das Aufschreiben und Vorlesen zum Thema werden lässt, als eine Suche nach der verlorenen Zeit.
Aus den „Gedichten in Prosa“ sei ein Musterbeispiel angeführt. Turgenjew präsentiert mit dieser Gattung Gespräche der Seele mit sich selber. Hier ein Beispiel mit der Überschrift:

 

Ich erhob mich mitten in der Nacht

 

Ich erhob mich mitten in der Nacht vom Bett. Mir war, als hätte mich jemand beim Namen gerufen, draußen, hinter dem dunklen Fenster.


Ich drückte das Gesicht an die Scheibe, hielt das Ohr daran, starrte hinaus – und wartete.
Aber dort, vor dem Fenster, rauschten nur eintönig und undeutlich die Bäume und zogen dichte, rauchgraue Wolken dahin, die sich zwar ununterbrochen veränderten, aber immer dieselben blieben. Kein Stern am Himmel, kein bisschen Licht auf der Erde. Traurig und trübselig draußen wie auch drinnen, in meinem Herzen.


Aber dann erhob sich plötzlich irgendwo in der Ferne ein klagender Laut, der allmählich anschwoll und näher kam, zu einer menschlichen Stimme wurde, dann nachließ und rasch ersterbend entschwand.


Ade! Ade! Ade! glaubte ich ihn hauchen zu hören.


Ach! Das war meine Vergangenheit, all mein Glück, alles, was ich gehegt und gepflegt hatte – es nahm unwiderruflich und für immer von mir Abschied!


Ich verneigte mich vor meinem entschwundenen Leben und legte mich ins Bett – wie ins Grab.


Ach, wäre es das Grab gewesen!

 

Juni 1879 [29]

 

Das ist eine Klage über die Vergänglichkeit, aber kein religiöses Gedicht. Die eigene Vergangenheit verabschiedet sich vom erlebenden Ich ohne metaphysischen Trost, der auch gar nicht vermisst wird. Wie anders etwa Tolstojs Geschichte vom „Tod des Iwan Iljitsch“. Tolstoj will den Leser einschüchtern, wie es sich für eine christliche Predigt gehört. Der Mensch, definiert als Sünder, der zu einem  wesentlichem Leben angehalten werden muss.. Nichts davon bei Turgenjew. Auch keine Warnung vor den Verführungen des Teufels, wie bei Dostojewskij üblich. Turgenjew vermittelt die Achtung des Menschen vor sich selbst. die hier mit der Achtung vor der eigenen Vergangenheit gleichgesetzt wird.


Ein Vortrag über Turgenjew bliebe unvollständig, wenn man diesen Dichter nicht auch in seinem kulturphilosophischen Anspruch zu Wort kommen ließe. Wenden wir uns deshalb seiner berühmten Abhandlung „Hamlet und Don Quijote“ [30]zu. Es ist der wissenschaftliche Diskurs eines Dichters von einer stilistischen Qualität, wie wir sie in unsrer Literatur etwa bei Friedrich Schiller und Hugo von Hofmannsthal finden. Turgenjew veröffentlichte diese Abhandlung 1860 in der einflussreichen Petersburger Zeitung „Der Zeitgenosse“ (Sovremennik) nachdem er sie Anfang des Jahres bereits als Rede öffentlich vorgetragen hatte. Das Thema „Hamlet und Don Quijote“ hatte ihn aber schon seit 1847 beschäftigt, was aus seinen Briefen zu entnehmen ist. Nebenbei sei vermerkt: Turgenjew hat 6064 Briefe hinterlassen, die chronologisch durchnummeriert insgesamt 15 Bände füllen. Die schließliche Niederschrift des Themas „Hamlet und Don Quijote“ fixiert ein regelrechtes Manifest, Turgenjews Menschenbild betreffend.


Man beachte die internationale Perspektive. Die bekannteste Gestalt der englischen Literatur wird mit der bekanntesten Gestalt der spanischen Literatur konfrontiert, zum Zwecke einer geschlossenen Typologie: Hamlet, der Skeptiker, Don Quijote, der Idealist. Zwischen diesen beiden Gestalten, so Turgenjew, vollzieht sich das Leben des Menschen. Dass Shakespeare und Cervantes im gleichen Jahr und dazu noch am gleichen Tag verstorben sind, dem 23. April 1616, lässt sich der pointensichere Turgenjew nicht entgehen. Die Entwicklung vom Idealisten zum Skeptiker sieht Turgenjew als eine ständige Tendenz des menschlichen Daseins an, wobei allerdings unter gewissen Voraussetzungen auch ein Verbleib bei einer idealistischen Weltsicht möglich ist, mit der Skepsis als Stimme hinter dem Vorhang. Wörtlich heißt es:

 

„Uns scheint, dass in diesen beiden Typen die zwei grundlegenden, einander widersprechenden Besonderheiten der menschlichen Natur verkörpert sind, die beiden Enden jener Achse, um die sie sich dreht. Wir glauben, dass alle Menschen mehr oder weniger zu einem dieser beiden Typen gehören, dass in jedem von uns, entweder etwas von Don Quijote oder von Hamlet steckt. Allerdings gibt es jetzt viel mehr Hamlets als Don Quijotes, aber auch die Don Quijotes sind noch nicht ausgestorben..“

 

Es fällt auf: Turgenjew benennt zwar zwei ewige Typen, denn er spricht ja von der menschlichen Natur überhaupt. Und doch stellt er sofort einen Bezug zur Gegenwart her: Russland im Jahre 1860. Es gibt „jetzt“ viel mehr Hamlets als Don Quijotes. Und die gleiche Anwendung auf die Gegenwart finden wir bei der Nachzeichnung Don Quijotes:

 

„Sein Name gilt selbst hei russischen Muzhiks als närrischer Spitzname. Wir konnten uns mit eigenen Ohren davon überzeugen. Sobald er genannt wird, ersteht vor uns eine hagere, eckige Gestalt mit einer Hakennaser, angetan mit einem lächerlichen Harnisch, thronend auf dem dürren Gerippe einer erbärmlichen Mähre, jener armen, ewig hungrigen und geprügelten Rosinante, einer Gestalt, der man, teils belustigt, teils gerührt, so etwas wie Sympathie nicht versagen kann. Don Quijote bringt einen zum Lachen, aber in diesem Lachen steckt eine versöhnende und erlösende Kraft (…).“

 

Schon jetzt wird deutlich: Turgenjews Vortrag über „Hamlet und Don Quijote“ entwirft nicht nur ein Menschenbild aufgrund zweier Typen, sondern auch eine Ästhetik. Von der versöhnenden und erlösenden Kraft des Lachens ist die Rede, das Don Quijote hervorruft. Wie anders Hamlet! Hamlets Äußeres, so Turgenjew, wirke durchaus „anziehend“:

 

„Seine Melancholie, das blasse, wenn auch nicht schmächtige Gesicht (…), die Kleidung aus schwarzem Samt, die Feder am Hut, die feinen Manieren, die unleugbare Poesie seiner Worte, das ständige Gefühl, anderen überlegen zu sein, und der giftige Spott der Selbsterniedrigung – alles an ihm gefällt, fesselt.“

 

Turgenjews Fazit: „Jeder fühlt sich geschmeichelt, als ein Hamlet zu gelten, niemand möchte sich den Spitznamen Don Quijote verdienen.“


Und natürlich kommt Turgenjew auch auf Ophelia und Dulcinea zu sprechen, die Frauen, die diesen beiden Gestalten zugeordnet sind. Hamlet ist unfähig, Ophelia zu lieben, weil er bei jeder ihrer Zuwendungen immer sofort ihre mögliche spätere Untreue mitdenkt. Und dagegen gibt es kein Argument. Nur zu gut weiß er, wie sich seine Mutter verhalten hat. Don Quijote aber kann von Dulcinea niemals enttäuscht werden, weil es sie in der Realität gar nicht gibt: er liebt ein Ideal, verneigt sich in concreto vor einem einfachen Bauernädchen mit „rundem Gesicht“ und „einer plattgedrückten Nase.“ In diesem Bauernmädchen, das auf einem Esel reitet, erblickt er seine Dulcinea del Toboso. Die Pointe solcher Anbetung aber besteht darin, dass Don Quijote sehr wohl weiß, dass er ein Bauernmädchen vor sich hat, er weiß aber gleichzeitig: Dulcinea ist von bösen Zauberern verwandelt worden, die ihre Schönheit entstellt haben, und nur er, Don Quijote, weiß, dass es so ist, weil man ihn nicht täuschen kann.


Die Logik des Wahns ist eine erhabene Logik. Und hier stellt Turgenjew wiederum, den Bezug zur Gegenwart her:

 

„Wir haben in unserem Leben, während unserer Reisen, selber Menschen gesehen, die für eine ebenso wenig existierende Dulcinea oder für ein grobes und oft schmutziges Etwas starben, ein Etwas, in dem sie die Verwirklichung ihres Ideals erblickt hatten und dessen Verwandlung sie ebenfalls dem Einfluss böser Zufälle und Personen zuschrieben – fast hätten wir gesagt Zauberer.“

 

Und emphatisch versichert uns Turgenjew:

 

„Wir haben solche Menschen kennengelernt, und sollte es sie einmal nicht mehr geben, müsste auch das Buch der Geschichte für immer zugeklappt werden! Es gäbe nichts mehr darin zu lesen.“

 

Turgenjew animiert hier den Leser, ein ganzes Panorama von Liebesgeschichten zu entwerfen, wie sie überall und zu jeder Zeit passiert sind und passieren, und impliziert gleichzeitig, dass wir seine Geschichten genauso allegorisch lesen sollen, wie er den „Don Quijote“. Und wieder wird deutlich: Turgenjews Ausflug in die Weltliteratur, ein Ausflug, von dem er „Hamlet und Don Quijote“ mitbringt, demonstriert nicht Bildung für Leute, die es wissen wollen, sondern ist gelungene Veranschaulichung des menschlichen Daseins hier und jetzt: eine Psychologie der Liebe, wenn man so will, aber auch eine Psychologie der falschen politischen Ideale. Denn vom Buch der Geschichte ist ja die Rede.


Der Dichter Turgenjew spricht hier zu uns gleichzeitig als Psychologe und Soziologe. Und als Dichter entwickelt er  vor unseren Augen sein Programm: Wir erhalten die Koordinaten für die systematischen Ortsbestimmungen seiner Liebesgeschichten, die er uns in immer neuen Varianten weniger Grundtatsachen erzählt. Immer geht es auf der Seite dessen, der sich verliebt, um die Frage: Don Quijote oder Hamlet?


Wenden wir uns mit diesen Informationen Turgenjews Roman „Rauch“ von 1867 zu, dem fünften in der Reihe seiner sechs Protokolle der russischen Gesellschaftsentwicklung. [31] Schauplatz ist Baden-Baden, und geschildert werden die Russen verschiedenster Couleur, die sich in Baden-Baden aufhalten. Kern der Handlung aber ist die neu aufflammende Liebesaffäre zwischen Grigorij Litwinow und Irina Ratmirowa. Kurz vor seiner anstehenden Hochzeit mit Tatjana Schestowa, die zur Unzeit anreist (ganz Gegentyp zur dämonischen Irina), verfällt Litwinow nun in Baden-Baden erneut seiner jetzt aber längst verheirateten Ex-Freundin, die ihn routiniert umgarnt, so dass er meint, ohne sie nicht glücklich werden zu können. Er will mit ihr in den Süden entfliehen, ein neues Leben beginnen. Aber es wird nichts daraus. In den Begegnungen  mit Irina, die in Hotelzimmern auf ihren Gipfel kommen (darunter auch ihre Suite im „Europäischer Hof“, der noch heute so heißt und die damalige Anwesenheit Irina Ratmirowas auf einer Tafel außen am Haus eigens vermerkt), sieht sich Litwinow aus einem Don Quijote in einen Hamlet verwandelt, und er tritt ernüchtert die Heimreise nach Russland an. Zu neuen Ufern? Die Verlobung mit Tatjana hatte er aufgelöst. Sie hatte ihn freigegeben, weil er ihr entglitten war. Nun hofft er, dass sie immer noch auf ihn wartet. Und tatsächlich: Tatjana verzeiht ihm, und die Grenzsituation in Baden-Baden bleibt Episode. Als eine solche aber bildet sie das Spannungszentrum eines Romans.


Sobald wir in der Lage sind, dem Grundmuster aller Liebesgeschichten Turgenjews mit der von ihm selber vermittelten Metaphorik zu begegnen, die Don Quijote zum Hamlet werden lässt, erschließt sich uns sein spezifischer Denkraum. Dieser Denkraum unterscheidet sich fundamental vom Denkraum seiner Kollegen Dostojewskij und Tolstoj. Während Dostojewskij und Tolstoj mit ihrem jeweils anderen Tugendkatalog den Leser über sich selbst belehren und verändern wollen, rückt Turgenjew das menschliche Leben in  eine philosophische Distanz und lässt es sein, was es ist: ein Ereignis, das sich nicht in den Griff nehmen lässt und im, Universum der literarischen Texte seine Reflexionsfiguren findet. Es ist weder übertrieben und auch nicht trivial, zu sagen, Turgenjew ist der Dichter der Selbstachtung des Menschen in einer entzauberten Welt. In solcher Profilierung gegenüber Dostojewskij und Tolstoj liegt seine Bedeutung für das literarische Bewusstsein unserer Gegenwart.

 

 

Nachbemerkung

 

Es fällt auf, dass in unserem, Zusammenhang immer wieder die Frage aufgeworfen wurde, ob denn Turgenjew nicht inzwischen veraltet sei. Ja, Peter Brang hat mit seiner ausführlichen Stellungnahme zu dessen 100. Todestag in der „Neuen Zürcher Zeitung“ vom 3. September 1983 diese Frage zur Kernfrage erhoben und seine Würdigung mit der Überschrift „Ist Turgenjew veraltet?“ versehen. Tatsache ist, dass nach anfänglicher Hochschätzung Turgenjews im 19. Jahrhundert eine Abwendung von ihm einsetzte. Typisch etwa das Urteil D. S. Mirskys in seiner so einflussreichen „History of Russian Literature.“  Die Probleme, so heißt es darin, mit denen Turgenjew bei seinen Zeitgenossen in Russland und im Westeuropa ein so intensives Gehör fand, hätten heute alle Aktualität verloren, seine Werke würden nur noch als „reine Kunst“ (pure art) wahrgenommen. Ein höchst sonderbarer Tadel. [32]


Peter Brang macht allerdings darauf aufmerksam, dass die Geschichte der Abwertung Turgenjews noch nicht geschrieben wurde. Was ist der Grund dafür, dass ausgerechnet der Nachruhm Turgenjews immer wieder zur Frage provoziert „Ist Turgenjew veraltet?“ Gewiss, der Naturalismus hatte den Realismus abgelöst, zudem kündigte sich mit Turgenjew bereits der Symbolismus an, und den herrschenden Zeitgeist hatte Turgenjew nicht nur mit seinem „Lied von der siegenden Liebe“ ignoriert. Der Sachverhalt  seiner Hintansetzung bleibt rätselhaft, denn für keinen anderen der russischen Klassiker, weder für Puschkin, Gogol oder Lermontow, noch für Gontscharow, Dostojewskij und Tolstoj oder Tschechow steht die Frage im Raum, ob sie veraltet sind, wenn ihr Nachruhm im 20. Jahrhundert aufs Tapet kommt. Turgenjew auch heute noch seine eigentliche Aktualität abzusprechen, heißt, an einer Verschwörung teilnehmen, deren Rädelsführer, Anstifter und Gehilfen immer noch auf ihre Verurteilung wegen Verbreitung hermeneutischer Irrlehren warten müssen. Fehlurteile über literarische Texte sind allerdings nicht justiziabel.


Vladimir Nabokov ist es, der zumindest das Nest dieser Verschwörung kenntlich gemacht hat. In seinen „Lectures on Russian Literature“ [33] entwickelt er einen grundlegenden Gedanken, um das Dilemma der russischen Literatur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu erklären. .Nicht nur die staatliche Zensur, die alle revolutionären Umtriebe, wo auch immer sie sichtbar wurden, zu verbieten suchte, züchtete den Geist der Unfreiheit, sondern auch, und das ebenso diktatorisch, die linksradikale Literaturkritik, die vom seriösen Schriftsteller Volksnähe, Sozialkritik und revolutionäre Perspektive forderte. Man denke an Tschernyschewskij, Dobroljubow, Pisarjew und ihren Vorläufer Belinskij. [34]Diese Forderungen setzten sich im literarischen Feld zu einer Leitlinie um, die alle Literatur, die nicht sozialkritisch inspiriert war, der Furie des Vergessens ausliefern wollte. Der Freiheitsbegriff der linksradikalen russischen Kritiker hatte, so dürfen wir heute sagen, einen missionarischen Charakter, der alle „Ungläubigen“ zum Teufel wünschte. Literatur sollte zum Sklaven der Sozialkritik werden und: der Schriftsteller damit ein Zwangsarbeiter zum Heile der Menschheit.


Zum Opfer solch anonymer „linker“ Gewalt, die auch politisch gemäßigte Kritiker integrierte, wird Turgenjew, sobald man seinem Oeuvre mit der inquisitorischen Frage begegnet: „Ist Turgenjew veraltet“? In dieser Frage steckt, ob kalkuliert oder nicht, die Forderung nach der sozialen Relevanz von Literatur. Wie aber, wenn Literatur nach der Seite ihres höchsten Interesses niemals eine soziale Relevanz gehabt hätte, sondern den Menschen immer nur, mit Heidegger gesprochen, als „Platzhalter des Nichts“ und „Hirten des Seins“ in allen nur denkbaren Lagen veranschaulicht hätte? Heideggers Kennzeichnungen finden sich bezeichnenderweise in seinem „Brief über den ‚Humanismus‘“. [35] Weder wird darin dem Prinzip des „l’art pour l’art“ das Wort geredet, noch einem „Existenzialismus“ im Sinne eines Jean-Paul Sartre. In unserem Zusammenhang bedeutet das, Turgenjews Humanismus hat mit einer „littérature engagée“ nichts gemein, weil er sich nicht auf „soziale Relevanz“ reduzieren lässt.


Turgenjew als einen zeitgeschichtlichen „Realisten“ zu lesen, wozu seine sechs Romane immer wieder der irreführende Anlass sind, verkennt die allegorischen Prämissen seiner Poetik. Joseph Conrad hat hier auf provozierende Weise das erlösende Wort gefunden, wenn er behauptet, Turgenjews russische Charaktere seien so wenig russisch wie die Italiener Shakespeares Italiener. Wer denkt bei Romeo und Julia oder Othello und Jago an italienische Verhältnisse? Ist Hamlet ein Däne? Konkret gesagt: Turgenjews Erzählung „Drei Begegnungen“ ist weder „russisch“, noch „realistisch“, noch „veraltet“, sondern eine Alllegorie auf die drei Phasen der Liebe: Erwartung, Erfüllung und Enttäuschung. [36]

 

 

Anmerkungen

 

[1] Vortrag, gehalten am Sonntag, dem 24. Juni 2012, um 11.00 Uhr im Palais Biron, Baden-Baden, anlässlich des 20jährigen Bestehens der Deutschen Turgenjew-Gesellschaft Die „Nachbemerkung“ ist aus der anschließenden Diskussion hervorgegangen. Vgl. auch Homepage: http://www.horst-juergen-gerigk.de Eine ausführliche und ansprechende Darstellung der intensiven Beziehungen Turgenjews zu Baden-Baden findet sich in zwei inzwischen klassischen Publikationen von Renate Effern: Der dreiköpfige Adler. Rußland zu Gast in Baden-Baden (Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft, 2. Aufl.1999) und Russische Wege in Baden-Baden (zweisprachig: Deutsch und Russisch, 2000 ebenfalls bei Nomos).


[2] Vgl. Ivan S. Turgenev: Polnoe sobranie sotschinenij i pisem. 28 Bde. Herausgegeben von M. P. Alekseev u. a. Moskau und Leningrad: Izdatel’stvo AN SSSR bzw. Izdatel’stvo „Nauka“ 1960-1968. Sotschinenija: Bde. 1-15, Pis’ma: Bde. 1-13. Die grundlegende Arbeit zur Wirkungsgeschichte Turgenjews hat Nicholas G. Žekulin vorgelegt: Turgenev. A Bibliography of Books 1843-1982 By and About Ivan Turgenev. With a Check-List of Canadian Library Holdings. Compiled by Nicholas G. Žekulin. Calgary, Alberta, Canada: The University of Calgary Press 1985. 221 Seiten. Eine einflussreiche Hervorhebung erfährt Turgenjew in der Monographie „Le roman russe“ des französischen Diplomaten Eugène-Melchior de Vogüé (1848-1910), der sich von 1876 bis1882 in Petersburg aufhielt. Das Buch erschien 1886 in Paris und ist Anlass dafür, dass sein Autor 1889 in die Académie francaise aufgenommen wird. Vogüé ist glühender Patriot, sieht im Deutschland Bismarcks eine ständige Gefahr für Frankreich und träumt von einer Allianz zwischen Frankreich und Russland. Turgenjews Leben und Werk werden von Vogüé mit besonderer Sympathie behandelt; eine überraschend ausführliche, wenn auch kritische Würdigung erhält der Roman „Neuland“ (Terres vierges) als indirekte Antwort (réponse indirecte) auf Dostojewskijs „Dämonen“ (Les possédés). Vgl. hierzu das Turgenjew-Kapitel in: Le roman russe, augmenté d’un article sur Maxime Gorki, précédé d’une étude de Pierre Pascal. Paris: Editions l’Age d’Homme 1971 (= Collection „Slavica“), Chapitre IV: Les “années quarante” --- Tourgénef, S. 159-205. Im deutschen Sprachraum seien in chronologischer Reihenfolge folgende Turgenjew-Monographien genannt: Hugo Tauno Salonen: Die Landschaft bei I. S. Turgenev. Akademische Abhandlung. Aus dem Finnischen von Dr. Gustav Schmidt. Helsingfors: Kiriapaino-Osakeyntiö Sana 1915; Reinhold Trautmann: Turgenjew und Tschechow. Ein Beitrag zum russischen Geistesleben. Leipzig: Volk und Buch Verlag 1948 (= Die Humboldt-Bücherei; Band 5); M. Nierle: Die Naturschilderung und ihre Funktionen in Versdichtung und Prosa von I. S. Turgenev. Studien zur Geschichte der russischen Literatur des 19.Jahrhunderts. Bad Homburg, Berlin Zürich 1969 (= Osteuropastudien des Landes Hessen. Reihe III. Frankfurter Abhandlungen zur Slavistik; 11); Jochen-Ulrich Peters: Turgenevs „Zapiski ochotnika“ innerhalb der ocerk-Tradition der 40er Jahre.  Zur Entwicklung des realistischen Erzählens in Rußland. Berlin und Wiesbaden: Harrassowitz 1972 (= Veröffentlichungen der Abteilung für slavische Sprachen und Literaturen des Osteuropa-Instituts an der  Freien Universität Berlin; 40); Peter Brang: I. S. Turgenev. Sein Leben und sein Werk. Wiesbaden: Harrassowitz 1977;   Peter Thiergen: Turgenevs „Rudin“ und Schillers „Philosophische Briefe“. Gießen: Wilhelm Schmitz Verlag 1980 (= Vorträge und Abhandlungen zur Slavistik; Band 1); Walter Koschmal: Das poetische System der Dramen I. S. Turgenevs. Studien zu einer pragmatischen Dramenanalyse.  München: Otto Sagner 1983; Walter Koschmal: Vom Realismus zum Symbolismus. Zur Genese und Morphologie der Symbolsprache in den späten Werken I. S. Turgenevs. Amsterdam: Rodopi 1984 (= Studies in Slavic Literature and Poetics. Volume 5); Hildegard Kottmann: Das Bühnenwerk Turgenevs. Frankfurt am Main, Bern, New York: Peter Lang 1984; Sigrid McLaughlin: Schopenhauer in Rußland. Zur literarischen Rezeption bei Turgenev. Wiesbaden: Harrassowitz 1984; Elisabeth Cheauré: Die Künstlererzählung im russischen Realismus. Frankfurt am Main: Peter Lang 1986 (= Symbolae Slavicae; Band 21, enthält eine vorbildliche Analyse der ästhetischen Ansichten Turgenevs sowie einschlägige Interpretationen der Erzählungen „Faust“, „Erscheinungen“, „Genug“ und „Das Lied der triumphierenden Liebe“); Paul Hacker: Studien zum Realismus I. S. Turgenevs. München: Otto Sagner 1988 (= Vorträge und Abhandlungen zur  Slavistik; Band 11. Es handelt sich um eine hier erstmals publizierte Dissertation, die 1940 in Berlin bei Max Vasmer angefertigt wurde, herausgegeben von Peter Thiergen); Peter Thiergen: Lavreckij als „potenzierter Bauer“. Zur Ideologie und Bildsprache in I. S, Turgenevs Roman „Das Adelsnest.“ München: Otto Sagner 1989 (= Vorträge und Abhandlungen zur Slavistik; Band 13); Klaus Fischer: „Mein Leben in Baden-Baden – vorbei!“ Auf Iwan Turgenjews Spuren in der Kurstadt. Marbach am Neckar: Deutsche Schillergesellschaft 1990 (= Spuren. Herausgegeben von Ulrich Ott, Friedrich Pfäfflin,  Thomas Scheufelen; 9, 16 Seiten); Rolf-Dieter Kluge: Ivan S, Turgenev. Dichtung zwischen Hoffnung und Entsagung. Unter Mitwirkung von Regine Nohejl. München: Erich Wewel 1992 (= Quellen und Studien zur russischen Geistesgeschichte; Band 1); Christoph Dolny: Literarische Funktionen der Personeneigennamen in den Novellen und Erzählungen von I. S. Turgenev. Bern: Peter Lang 1996 (=Slavica Helvetica; Band 51); Anna Rothkoegel: Russischer Faust und Hamlet. Zur Subjektivismuskritik und Intertextualität bei I.S. Turgenev. München: Otto Sagner 1998 (= Vorträge und Abhandlungen zur Slavistik; Band 35); Galina Thieme: Ivan Turgenev und die deutsche Literatur. Sein Verhältnis zu Goethe und seine Gemeinsamkeiten mit Berthold Auerbach, Theodor Fontane und Theodor Storm. Frankfurt am Main u. a.: Peter Lang 2000 (= Heidelberger Publikationen zur Slavistik. B. Literaturwissenschaftliche Reihe; Band 15); In diesen Zusammenhang gehört auch ein Aufsatz von Erich Th. Hock: Ein russischer Bewunderer Mörikes. Zwei Begegnungen mit Turgenev 1865 (in: Gogol, Turgenev, Dostoevskij, Tolstoj. Zur russischen Literatur des 19. Jahrhunderts. München: Fink 1966. Forum, Slavicum, Band 12: S. 51-56); zu Turgenjew und Schiller vgl. Rostislav Ju.  Danilevskij: Fridrich Shiller i Rossija. Sankt-Peterburg: Izdatel’stvo „Puškinskij Dom“ 2013) (= Serija Biblioteka Puškinskogo Doma), S. 426-444; Juan Eduardo Zuniga: Iwan S. Turgenjew. Eine Biographie. Frankfurt am Main und Leipzig: Insel 2001 (= Insel Taschenbuch 2744); Anton Seljak: Ivan Turgenevs Ökonomien. Eine Schriftstellerexistenz zwischen Aristokratie, Künstlertum und Kommerz. Zürich: Pano Verlag 2004 (= Basler Studien zur Kulturgeschichte Osteuropas; Band 6). Beachtung verdienen des weiteren vieri Sammelbände: I. S. Turgenev und Deutschland. Materialien und Untersuchungen. Herausgegeben von Gerhard Ziegengeist. Berlin: Akademie-Verlag 1965 (= Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Veröffentlichungen des Instituts für Slawistik; Nr. 34); Beiträge und Skizzen zum Werk Ivan Turgenevs. Herausgegeben von Johannes Holthusen. München: Otto Sagner 1977 (= Slavistische Beiträge; Band 116); eine vorbildliche Einführung in Leben und Werk Turgenjews ist die von Klaus Dornacher herausgegebene Textsammlung (literarische Werke, Publizistik, Briefe, mit ausführlicher Zeittafel) „Turgenjew. Ein Lesebuch für unsere Zeit“ (Berlin und Weimar: Aufbau Verlag 1989, 441 Seiten), enthält auch Turgenjews Erlebnisbericht „Die Hinrichtung Tropmanns“; „Ivan Sergeevic Turgenev und seine Zeit“ heißt der Katalog zur Ausstellung, die vom 20. August bis 27. September 1993 im Jesuitensaal des Rathauses Baden-Baden stattfand. Herausgegeben von Ute Reimann. Mit Beiträgen von Galina Thieme, Peter Brang und Irena Selvakova sowie Briefen Turgenjews und Auszügen aus seinen literarischen Werken. Zahlreiche Abbildungen. Baden-Baden: Kulturamt der Stadt Baden-Baden 1993; I. S. Turgenev. Leben, Werk und Wirkung. Beiträge der Internationalen Fachkonferenz aus Anlass des 175. Geburtstages an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg, 15. – 18. September 1993. Herausgegeben von Peter Thiergen. München: Otto Sagner 1995 (= Vorträge und Abhandlungen zur Slavistik; Band 27; enthält sogar einen Beitrag über Turgenjew in Japan von Kadzuchiko Sawada). Eine wesentliche Rolle spielen Turgenjews Erzählungen „Chor und Kalinytsch“, „Ein Kreisarzt“ und „Der Tod“ sowie sein Roman „Väter und Söhne“ in der Abhandlung von Sabine Merten: Die Entstehung des Realismus aus der Poetik der Medizin.  Die Russische Literatur der 40er bis 60er Jahre des 19. Jahrhunderts.  Wiesbaden: Harrassowitz 2003 (= Schriften zur Geistesgeschichte des östlichen Europa; Band 26; 330 Seiten).  Einen maßgebenden Beitrag zur Weltanschauung Turgenjews liefert Michel Cadot (Paris, Sorbonne Nouvelle): Das „wahrhaft Übernatürliche“: Bemerkungen über Phantastik und Realismus in Turgenjews Erzählungen. In: Die Wirklichkeit der Kunst und das Abenteuer der Interpretation. Festschrift für Horst-Jürgen Gerigk. Herausgegeben von Klaus Manger. Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter 1999 (= Beiträge zur neueren Literaturgeschichte; Band164), S. 53-65. In den gleichen Zusammenhang gehört der Beitrag von Robert Louis Jackson: Turgenev’s „Knock…Knock…Knock!“ The Riddle of the Story. In: Jackson, Close Encounters. Essays on Russian Literature. Introductory Note by Horst-Jürgen Gerigk. Boston: Academic Studies Press 2013 (= Ars Rossica. Series Editor: David Bethea), S. 20-44. Eine besondere Pointe setzt Ivan Turgenev: Rätsel-Spiele.. Jeux d’esprit. Porträtskizzen von Ivan Turgenev mit Bildlegenden von Pauline Viardot und Ivan Turgenev. Deutsch von Peter Urban. Berlin: Friedenauer Presse 2000.  Sechs Erzählungen Turgenjews zwischen 1850 und 1860 und drei Tolstojs aus demselben Zeitraum behandelt Rudolf Neuhäuser in seinem Essay „Das Biedermeier (Realidealismus) in der Prosa der fünfziger Jahre“ in seinem, Sammelband: Russische Literatur 1780-2011. Literarische Richtungen, Schriftsteller, kulturpolitisches Umfeld. 12 Essays (Wien, Köln, Weimar: Böhlau 2013), S.103-120. In Turgenjew-Nachfolge stehen, was hier hervorgehoben sei, Eduard von Keyserling (1855-1918), der Dichter der baltischen Aristokratie, und Ferdinand von Saar (1833-1903), der Schilderer der Wiener Gesellschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Vgl. Eduard von Keyserling: Schwüle Tage und andere Erzählungen. Nachwort von Freiherr Otto von Taube. Zürich: Manesse 1954; und Ferdinand von Saar: Meistererzählungen. Nachwort von Hansres Jacobi. Zürich: Manesse 1982. Soweit ich sehe, ist William Somerset Maugham (1874 – 1965) der einzige, der Turgenjew im Vergleich mit Dostojewskij und Tolstoj an die Spitze rückt.  Er vermerkt, Turgenjew „ist weder ein Priester noch ein  Prophet; ihm reicht es, ganz  einfach ein Dichter zu sein und nichts anderes. Es ist gut möglich, dass eine künftige Generation zu der Einsicht gelangt, dass er von diesen dreien der größte gewesen ist“ (He is neither a  preacher nor a prophet; he is content to be a novelist pure and simple. It may well be that a future generation will come to the conclusion that he was the greatest of the three). In: Somerset Maugham: A Writer’s Notebook (zuerst 1949), Harmondsworth, Middlesex, England: Penguin Books in Association with William Heinemann 1967, S. 157. Der irische Schriftsteller Frank O’Connor (1903-1966), selber ein Meister der Kurzgeschichte, veröffentlicht in seiner Sammlung von elf Essays, „The Lonely Voice. A Study of the Short Story“ (London: MacMillan 1963) eine Würdigung Turgenjews („Hamlet and Quixote“, S. 46-61), die mit dem Satz beginnt: „Die Aufzeichnungen eines Jägers könnte man durchaus als die großartigste Sammlung von Kurzgeschichten bezeichnen, die jemals geschrieben wurde” (A Sportsman’s Sketches may well be the greatest book of short stories ever written). Des weiteren zeichnet er Turgenjews Erzählung „Old Portraits“ (= Alte Porträts, russ. Starye portrety) besonders aus: „Alte Porträts ist wahrscheinlich Turgenjews beste Erzählung; ja, würde mir die törichte Frage gestellt, was denn die beste Erzählung der Welt sei, dann würde mir wahrscheinlich diese einfallen“ (Old Portraits is probably Turgenev’s greatest story; indeed, if I were to answer so foolish a question as ‚which is the greatest story in the world?‘ I should probably light on this; S. 39). Es sind die Praktiker, die das Handwerk des Erzählens beherrschen, die hier Turgenjew das höchste Lob ausstellen: neben Somerset Maugham und Frank O’Connor Henry James, Joseph Conrad und Ernest Hemingway. James Joyce wiederrum zeigt sich kritisch gegenüber Turgenjew, diskutiert aber detailliert mit Arthur Power, der Turgenjew verteidigt,  „Adelsnest,“ „Väter und Söhne“ sowie „Aufzeichnungen eines Jägers“ und „Frühlingswogen“. Joyce wörtlich: „Verglichen etwa mit Dostojewskij, war er ein wohlerzogener russischer Gentleman, der ab und zu mit dem Feuer spielte, aber darauf achtete, sich niemals zu verbrennen“ (in contrast to Dostoevski for example, he was a nicely mannered Russian gentleman playing occasionally with fire but taking care never to get burned); „die einzigen überzeugenden Gestalten seiner Romane sind die anämischen Adligen“ (the only people who are convincing in his novels are his anaemic gentlefolks); „ich denke sein bestes Werk, das waren seine frühen ,Aufzeichnungen eines Jägers‘, denn hier greift er tiefer ins Leben hinein als in seinen Romanen“ (I think his best work was those early  Sportsman’s Sketches of his, for in those he went into life deeper than in his novels). Arthur Power jedoch, Kunstkritiker und Maler, verteidigt Turgenjew: Dostojewskij ergreife uns wie ein Sturm und wie an einen Sturm wird man sich an ihn erinnern, gelegentlich; Turgenjew aber sei so geschliffen und bleibend  wie Maupassant (Dostoevski passes over us like a storm, and like a storm he will be remembered, occasionally – but there is a quality in Turgeniev which is as polished and firm as Maupassant was). Vgl. Arthur Power: Conversations with James Joyce. Edited by Clive Hart. London: Millington 1974, S.  56-57.  Ezra Pound hebt aus dem „Adelsnest“ einen einzigen Satz hervor, auf den alles zuge- schnitten sei: Marfa Timofejewnas Diktum „Nothing but death is irrevocable“ (Ech, dusha moja, na odnu smert‘ lekarstva net!, Kap. 45). Vgl. Literary Essays of Ezra Pound. Edited with an Introduction by T. S. Eliot. London: Faber and Faber 1964, S. 277 In seinem Essay über Provinzialismus als das Bestreben, dem Individuum die Anpassung aufzuzwingen, benennt Ezra Pound als Autoren im  Kampf für eine moderne Aufklärung „Galdos, Turgenev, Flaubert, Henry James“. Turgenjew habe mit „Rauch“ und „Adelsnest“  die „Dummheit des russischen Provinzialismus“ offengelegt (Turgenev in ,Fumée‘ and in the ‚Nichée de Gentilshommes‘ digging out the stupidity of the Russian). Vgl. Ezra Pound: Provincialism the Enemy (1917).  In: Ezra Pound: Selected Prose 1909-1965. Edited with an Introduction by William Cookson. London: Faber and Faber 1973, S.159-173, hier S. 173. Über die anglo-amerikanische Turgenjew-Forschung nach 1945 berichtet Ju. D. Levin: Novejshaja anglo-amerikanskaja literatura o Turgeneve (1945-1965). In: Literaturnoe nasledstvo 76: I. S. Turgenev. Novye materialy i issledovanija. Moskau: „Nauka“ 1967, S. 506-540. Zur Wirkungsgeschichte Turgenjews gehören natürlich auch die Verfilmungen seiner Werke. Die „Internet Movie Data Base“ (IMDB) listet von 1913 bis 2014 84 Titel auf: (http://www.imdb.com/name/nm0877057/?ref_=fn_al_nm_1). „Erste Liebe“ zum Beispiel wurde  elfmal verfilmt. Zu den Opern nach Texten von Turgenjew vgl. Anmerkung 21. Sieht man von den „Gedichten in Prosa“ einmal ab, so ist Turgenjew  als Verfasser von Gedichten weder in Russland noch in Deutschland wirklich präsent. In den Anthologien russischer Lyrik in deutscher Übersetzung bei Reclam (1983, ed. Kay Borowskij, Ludolf Müller) und bei S. Fischer (2003, ed. UIrich Schmid) fehlt Turgenjew. Nur die Anthologie „Russische Lyrik. Gedichte aus drei Jahrzehnten“ bei Piper (München und Zürich 1981), ausgewählt und eingeleitet von Efim Etkind, bringt zwei Gedichte von Turgenjew (S. 558: Der Abend auf dem Lande, Die Meise) unter der Rubrik „Spätromantik.“ 26 ins Deutsche übersetzte Gedichte Turgenjews verzeichnet die von Ulrike Jekutsch herausgegebene Bibliographie der „Anthologien mit russischen Dichtungen, Stuttgart: Anton Hiersemann 1998 (= Hiersemanns bibliographische Handbücher; Band 13.2), S,. 117.


[3] Bei Hegel heißt es: „Der Roman im modernen Sinne setzt eine bereits zur Prosa gewordene Wirklichkeit voraus, auf deren Boden er sodann in seinem Kreise, sowohl in Rücksicht auf die Lebendigkeit der Begebnisse, als auch in Betreff der Individuen und ihres Schicksals, der Poesie, soweit es bei dieser Voraussetzung möglich ist, ihr verlorenes Recht wieder erringt. Eine der gewöhnlichsten und für den Roman passendsten Kollisionen ist deshalb der Konflikt zwischen der Poesie des Herzens und der entgegenstehenden Prosa der Verhältnisse so wie dem Zufalle äußerer Umstände; ein Zwiespalt, der sich entweder tragisch und komisch löst, oder seine Erledigung darin findet, dass einer Seits die der gewöhnlichen Weltordnung zunächst widerstrebenden Charaktere das Echte und Substantielle in ihr anerkennen lernen, mit ihren Verhältnissen sich aussöhnen und wirksam in dieselben eintreten, anderer Seits aber von dem, was sie wirken und vollbringen, die prosaische Gestalt abstreifen, und dadurch eine  der Schönheit und Kunst verwandte und befreundete Wirklichkeit an die Stelle der vorgefundenen Prosa setzen.“ Vgl. G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Aesthetik. Mit einem Vorwort von Heinrich Gustav Hotho. In: Hegel, Sämtliche Werke, Jubiläumsausgabe in zwanzig Bänden. Im Faksimileverfahren neu herausgegeben von Hermann Glockner. Stuttgart, Bad Cannstadt: Friedrich Frommann Verlag (Günther Holzboog) 1964, Bd. 14 (= Band 3 der Aesthetik, Abschnitt über  „Das Epos als einheitsvolle Totalität“), S. 395-396.


[4] Vgl. hierzu insbesondere Käthe Wiegand: I. S. Turgenevs Einstellung zum Deutschtum. Phil. Diss. (Gutachter: Max Vasmer) Berlin 1939. Dasselbe: Nendeln, Liechtenstein: Kraus Reprints 1968 (= Veröffentlichungen des Slavischen Instituts an der Friedrich Wilhelms-Universität Berlin; Band  24). Wie Käthe Wiegand vermerkt (S. 9), studierte Turgenjew „mit besonderem Eifer Hegel“ unter Anleitung von Karl Friedrich Werder (1806-1893), Ästhetiker und Philosoph an der Universität Berlin. Ein verwandtes Thema bearbeitet später Erich Th. Hock  in seiner allerdings nur maschinenschriftlich vorliegenden Dissertation: Turgenev und die deutsche Literatur. Ein Beitrag zur Literatur- und Geistesgeschichte des 19 Jahrhunderts (Göttingen, Phil. Diss. 1953).


[5] Vgl. Turgenev, op. cit., Pis’ma, Bd 8, S. 172. Wolfgang Kasack  lässt in seiner umfangreichen Abhandlung „Christus in der russischen Literatur. Ein Gang durch ihre Geschichte von den Anfängen bis zum Ende des 20. Jahrhunderts“ (Stuttgart: Verlag Urachhaus 2002) auf seine Weise deutlich werden, warum Turgenjew ein „Gedicht in Prosa“ unter dem Titel „Christus“ schreiben konnte, ohne  ein Christ zu sein. Es heißt: „Ihn hatte in der Jugend Feuerbach begeistert, und aus seinem Atheismus ergab sich – neben Turgenjews starker Bindung an Westeuropa – die Antipathie gegenüber Dostojewski. Turgenjew bestritt verstandesmäßig die Existenz der jenseitigen Welt, die Fortdauer des individuellen Daseins über den Tod hinaus, hatte aber eigene Erfahrungen, auch  visionärer Art, die ihm das Gegenteil  zeigten.“ (S. 85) Dieses “Gegenteil“ aber sollte, wie ich meine, in den Kontext der Ausführungen von William James „The Varieties of Religious Experience. A Study in Human Nature. Being  the Gifford Lectures on Natural Religion, Delivered  at Edinburgh in 1901-1902“ (New York: The Modern Library1999) gerückt werden. Gewiss stand Henry James den Ansichten seines Bruders nahe, wenn er in seinen Erzählungen okkulte Elemente verwendete.


[6] Vgl. die Überlegungen zu „Turgenjew und Tschechow“ von Peter Thiergen: Iwan Turgenjew: Ein Monat auf dem Lande. In: Das russische Drama. Herausgegeben von Bodo Zelinsky. Düsseldorf: Bagel Verlag 1986, S. 88-102 und S. 373-377, hier S. 101-102. Victor Terras bescheinigt in seiner „History of Russian Literature“ (New Haven and London: Yale University Press 1991) Turgenjews „sonderbarem, fast surrealistischen Einakter” (strange, almost surrealist one-acter) „Gespräch an der großen Landstraße“ (Razgovor na bol’shoj doroge) eine Ähnlichkeit mit Becketts „Warten auf Godot“ und stellt fest, Turgenjews: „plays were ahead of the times in that they were based on atmosphere, mood, and character instead of on plot or even conflict.“ (S. 370)


[7] Vgl. Karl Ernst Laage: Theodor Storm und Iwan Turgenjew. Persönliche und literarische Beziehungen. Einflüsse, Briefe, Bilder. Heide in Holstein: Boyens und Co. 1967 (= Schriften der Theodor Storm Gesellschaft. Schrift 16). 2. Auflage: Vaduz, Liechtenstein: Topos Verlag 1989; Gustave Flaubert, Ivan Turgenev: Briefwechsel 1863-1880. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. Mit einem Vorwort von Walter Boehlich. Herausgegeben und kommentiert von Peter Urban. Zürich: Diogenes 2008. Zu Maupassant ist anzumerken, dass er kurz nach dem Tod Turgenjews eine Erzählung veröffentlicht hat, in der er Turgenjew persönlich auftreten lässt: „La Peur“ (1884). Maupassant referiert darin eine Episode, die Turgenjew an einem Sonntag bei Flaubert erzählt habe: „Tourgeneff se sentit traversé par la peur hideuse, la peur glaciale des choses surnaturelles.“ Turgenjew sah sich mitten in der Natur beim Schwimmen in einem Fluss von einer nackten Frau verfolgt, die, „wie ein Gorillaweibchen“, schließlich im Wald verschwand. „Et Tourgeneff la vit disparaitre dans le feuillage, pareille a une femelle de gorille“. Wie sich herausstellt, handelte es sich um eine Wahnsinnige, die seit mehr als dreißig Jahren in dem Wald lebte, von den Hirten mit Essen und Trinken versorgt wurde und den halben Tag im Fluss herumschwamm. Vgl. Maupassant, Contes et nouvelles. 2 Bde. Paris: Edition Gallimard 1979, Bd. 2, „La Peur”, S. 198-205, hier S. 200-202. Zur motivgeschichtlichen Einordnung der Begegnung Turgenjews mit einem „Gorillaweibchen” vgl. Horst-Jürgen Gerigk: Der Mensch als Affe in der deutschen, französischen, russischen, englischen und amerikanischen Literatur. Hürtgenwald: Guido Pressler 1989, S. 179-180.


[8] Vgl. Henry James: The Future of the Novel. Essays on the Art of Fiction. Edited with an Introduction by Leon Edel. New York: Vintage Books 1956. Darin: “Turgenev and Tolstoy”, S. 225-233, hier S. 228.


[9] Vgl. Ernest Hemingway: Selected Letters, 1917-1961. Edited by Carlos Baker. New York: Charles Scribner’s Sons 1981, S. 179.


[10] Vgl. Henry James, op. cit., S. 230.


[11] Vgl. Henry James, op. cit., S. 126.


[12] Vgl. Joseph Conrad: Notes on Life and Letters. London: J. M. Dent and Sons 1949 (= Collected Edition of the Works of Joseph Conrad). Darin: “Turgenev (1917)”, S. 45-48. In seinem Roman „Mit den Augen des Westens” (Under Western Eyes, 1911) entwirft Joseph Conrad eine „Psychologie Russlands” (sein Wort im Vorwort von 1920) und führt einen Staat vor Augen, der die Würde des Menschen mit Füßen tritt. Conrads Eltern waren wegen Teilnahme des Vaters am polnischen Aufstand von 1863 nach Wologda verschleppt worden, wo seine Mutter starb. Er selbst war, geboren 1857 in Polen, 1874 nach England ausgewandert und wurde britischer Staatsbürger.


[13] Vgl. Dmitri Mereschkowski: Ewige Gefährten. Mit 11 Porträts. Deutsch von Alexander Eliasberg. München: R. Piper & Co. Verlag 1915. Darin: „Turgenjew“, S. 219-228.


[14] Vgl. Mereschkowski, op. cit., S. 219-220 und 228.


[15] Eine lebende Reliquie, in: Turgenjew, Aufzeichnungen eines Jägers. Aus dem Russischen von Manfred von der Ropp. Frankfurt am Main und Hamburg: Fischer Bücherei 1961 (= Die Fischer Bibliothek der hundert Bücher), S. 344-358.  Verwiesen sei auch auf die im Manesse-Verlag, Zürich, 2004 erschienene Ausgabe der „Aufzeichnungen eines Jägers“, übersetzt und mit einem Nachwort (S. 677-700) von Peter Urban (samt dreii „Jägerskizzen“ aus dem Umkreis: Der Reformator und der russische Deutsche, Der russische Deutsche, Ein Ende). Im Aufbau-Verlag, Berlin und Weimar, erschienen die „Aufzeichnungen eines Jägers“ 1994, übersetzt von Herbert Wotte und mit einem Nachwort (S. 439-455) von Klaus Dornacher (= Iwan Turgenjew. Gesammelte Werke in Einzelbänden. Herausgegeben von Klaus Dornacher; Bd. 1). Und bei Manesse, Zürich,  waren 1973 (3. Aufl. 1986) Iwan Turgenjews „Meistererzählungen“, übersetzt und mit einem Nachwort (S. 545-562) von Erich Müller-Kamp, herausgekommen (darin: Fahrt ins Waldgebiet, Assja, Erste Liebe, Punin und Baburin, Ein König Lear der Steppe, Nach dem Tode (Clara Militsch), Die Erzählung des Vaters Alexej, Welt-Ende (Ein Traum)).


[16] Aufzeichnungen eines Jägers, op. cit., 1961,  S. 346.


[17] Mereschkowskij, op. cit., S. 223.


[18] Eine lebende Reliquie, op. cit.,1961, S. 347.


[19] Ebenda, S. 355.


[20] Mereschkowskij, op. cit., S. 224.


[21] Die Sänger, in: Aufzeichnungen eines Jägers, op. cit.,1961, S. 236. Dass die Musik in Leben und Werk Turgenjews eine wichtige Rolle spielt, bedarf  keiner Hervorhebung. Man denke nur an seine intensive Beziehung zu Pauline Viardot-Garcia. Auch war Turgenjew mit Heinrich Wackenroders „Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders“ vertraut, worin der Komponist Joseph Berglinger die programmatische Funktion erfüllt, die Musik an die Stelle der Religion zu rücken. Zu Pauline Viardot-Garcia (1821-1910) vgl. Friedrich Herzfeld: Magie der Stimme. Die Welt des Singens, der Oper und der großen Sänger (Berlin, Frankfurt am Main, Wien: Ullstein 1961, S. 190-191). Hierzu jetzt N. G. Žekulin: Turgenev v krugu sem’i Viardo. In: I. S. Turgenev. Novye issledovanija i materialy, III, Moskva-S.-Peterburg: Aljans-Archeo 2012, S. 5-54. An Opern auf Texte von Turgenjew sind zu nennen: „Asja“ von M. Ippolitow-Iwanow (Moskau 1900), „Il pane altrui“ (Nachlebnik) von G. Orefice (Venedig 1907), „Traumwandel“  von K. H. David (Zürich 1928) und  „A Month in the Country“ von Lee Holby (Uraufführung unter dem Titel „Natalya Petrovna“, New York City Opera 1964). M. Karlowitsch komponierte eine „Sinfonische Dichtung“ unter dem Titel „Episode auf einem Maskenball“ (Epizod na maskarade), die auf dem letzten Teil der Erzählung „Drei Begegnungen“ (Tri vstreci) basiert, unvollendet blieb und von G. Fitelberg zu Ende komponiert wurde (Uraufführung Warschau 1914). Turgenjews Gedichte wurden von verschiedensten Komponisten vertont, so etwa Arenskij, Anton Rubinstein, Sokolow und Pauline Viardot. Vgl. hierzu “Grove Music Online: Turgenev, Ivan Sergeyevich“ http://www.oxfordmusiconline,com.ubproxy.ub.uni-heidelberg.


[22] Die Beschinwiese, in: Aufzeichnungen eines Jägers, op. cit.,1961, S. 95.


[23]  Ebenda, S. 111.


[24] Vgl. William Trevor: Reading Turgenev. In: Trevor, Two Lives. London: Penguin Books 1992, S. 1-222. Deutsche Ausgabe: William Trevor: Turgenjews Schatten. Deutsch von Thomas Gunkel. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1994.


[25] Vgl. Owen Wister: The Virginian. A Horseman oft he Plains. With an Afterword by Max Westbrook. New York: The New American Library 1979 (= A Signet Classic). Vgl. hierzu das Kapitel „Turgenjew im Wilden Westen: Owen Wisters ,Virginier‘’ liest ,Väter und Söhne’” in: Horst-Jürgen Gerigk: Die Russen in Amerika.. Dostojewskij, Tolstoj, Turgenjew und Tschechow in ihrer Bedeutung für die Literatur der USA. Hürtgenwald: Guido Pressler 1995, S. 460-462.


[26] Vgl.. hierzu insbesondere das hervorragende „Nachwort“ (S. 289-318) von Peter Thiergen sowie seinen Kommentar zu Iwan Turgenjew: Väter und Söhne, übersetzt von Frida Rubiner. Stuttgart: Reclam 1989. Zum größeren Kontext vgl. Peter Thiergen: Jean Paul als Quelle des frühen russischen Nihilismus-Begriffs, in: Res Slavica. Festschrift für Hans Rothe zum 65. Geburtstag. Herausgegeben von Peter Thiergen und Ludger Udolph unter Mitarbeit von Wilfried Potthoff. Paderborn: Ferdinand Schöningh 1994, S. 286-317, darin zu Turgenjew S. 317. Von Peter Thiergen erschien 2008: Deutsche Anstöße der frühen russischen Nihilismus-Diskussion des 19.Jahrhunderts (= Veröffentlichungen der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste; Vorträge Geisteswissenschaften, Nr. 419). Zu „Väter und Söhne“ vgl. des weiteren Otto Krätz: Iwan Turgenjew und die russischen Chemiker in Heidelberg. In: Chemie in unserer Zeit, 21 (1987), Nr. 3, S. 89-99; sowie Peter Brang: Iwan Turgenjew: Väter und Söhne. In: Der russische Roman. Herausgegeben von Bodo Zelinsky. Düsseldorf: Bagel Verlag 1979, S. 134-160 und S. 413-415. 1932 vermerkt Gottfried Benn in seiner Abhandlung „Nach dem Nihilismus“ über Turgenjews „Väter und Söhne“: „Für unser Thema äußerst interessant ist nun, dass der Nihilismus dieses Basaroff eigentlich gar kein Nihilismus in absoluter Form war; kein Negativismus schlechthin, sondern ein fanatischer Fortschrittsglaube, ein radikaler Positivismus in bezug auf Naturwissenschaften und Soziologie. Er ist zum erstenmal in der europäischen Literatur der siegesgewisse Mechanist, der schneidige Materialist, dessen etwas fragwürdige Enkel wir ja heute noch lebhaft tätig unter uns sehen (…)“ (in: Gottfried Benn: Sämtliche Werke, Stuttgarter Ausgabe, Bd. III, Prosa 1. Stuttgart: Klett-Cotta 1987, S. 399). Im Zusammenhang mit seinen Roman „Väter und Söhne“ unternahm Turgenjew im Oktober 1862 eine Reise nach Heidelberg, wo er im Hotel Schrieder (später Holyday Inn) übernachtet hat, um sich vor russischen Studenten gegen den Vorwurf zu verteidigen, die Figur des Basarow diene ihm dazu, die Begeisterung für die Naturwissenschaften herabzuwürdigen. Vgl. Willy Birkenmaier: Das russische Heidelberg (Heidelberg: Wunderhorn 1995, S. 161). Zum Nihilismus in Russland vgl. Wolf-Heinrich Schmidt: Nihilismus und Nihilisten. Untersuchung zur Typisierung im russischen Roman der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. München 1974. Nietzsche vermerkt in seinen „Nachgelassenen Fragmenten 1887 – März 1888“: „Bis jetzt hat das russische Volk, trotz der Derbheit seines Ingrimm-Vokabulärs, nicht den Cynism gekannt. Wissen Sie, daß der Leibeigene sich mehr respektirte als sich Turgenjef respektirt?...man schlug (ihn), aber er blieb seinen Göttern treu – und T(urgenjef) hat die seinen verlassen…Das Volk muß glauben, daß wir alle das Ziel wissen. Wir werden die Zerstörung predigen: diese Idee ist so verführerisch.“ Das heißt: Das russische Volk bezieht seine Würde aus seiner Frömmigkeit, während der aufgeklärte nihilistische Turgenjew gegenüber Kränkungen nachlässig wird, weil er sie rational, d. h. analytisch verarbeitet. Nietzsche setzt hier offenbar Turgenjew mit Basarow gleich, ohne das zu erläutern, denn wir haben es bei solchen „Fragmenten“ mit  schriftlichen Selbstgesprächen vor imaginären Zuhöreren zu tun, deren Deutung oft schwierig ist.. Vgl. Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinar.i München, Berlin, New York: Deutscher Taschenbuch Verlag 1980, Bd. 13, S. 150. Zu Basarow im Urteil der russischen Kritik der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts vgl. „Rudin i Bazarov v ocenke kritiki 70-ch godov“. In: Literaturnoe nasledstvo 76: I. S. Turgenev. Novye materialy i issledovanija. Moskau: „Nauka“ 1967, S. 571-578. Wichtige Informationen zum Duell in „Väter und Söhne“ liefert Christine Scholle: Das Duell in der russischen Literatur.  Wandlungen und Verfall eines Ritus. München: Verlag Otto Sagner 1977 (= Arbeiten und Texte zur Slawistik; Band 14. Herausgegeben von Wolfgang Kasack), S. 91-102.


[27] Vgl. Adolf Stender-Petersen: Geschichte der russischen Literatur. 2 Bde. München: C.H. Beck 1957, Bd. 2, S. 257. Eine umfassende Würdigung Turgenjews, die allen Aspekten seines Oeuvre Rechnung trägt,  findet sich in Dmitrij Tschižewskijs  „Russischer Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts“ (Band II: Der Realismus, München: Wilhelm Fink Verlag  1967, S. 31-50).  Hervorhebung verdienen des weiteren die 18 detaillierten und präzisen Inhaltsangaben zu den deutschen Übersetzungen der Werke Turgenjews (mit Bibliographie) von Philipp Harden-Rauch in: Der Romanführer. Herausgegeben von Johannes Beer, unter Mitwirkung von Wilhelm Olbrich und Karl Weitzel. Band 8: Der Inhalt der nordischen, slawischen, ukrainischen und rumänischen Romane und Novellen von den Anfängen bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. Stuttgart: Anton Hiersemann 1957, S. 293-307. Tolstoj hat im gleichen Band 18 Einträge, desgleichen Dostojewskij. Das heißt: Turgenjew steht hier gleichrangig neben ihnen. Eine besondere Art der Wirkungsgeschichte  verfolgt Andreas Guski, wenn er in seinem Artikel „Das Schicksal eines Jägers. Wie ein verschwundenes Bildnis von Iwan Turgenjew nach Paris zurückfand“ (in: Baseler Zeitung vom 7. November 2006, S. 8-9) über den ursprünglichen Anlass des populären Porträts „Turgenjew auf der Jagd“ des Malers Dmitriev-Orenburgskij (1838-1898) berichtet, das sich jetzt im Petersburger Literatur-Haus (Pushkinskij dom) befindet, und nur als eine Vorstudie  für ein in Paris entstandenes, weithin unbekanntes größeres Opus „Die Fasanenjagd“ zustande kam, worauf die Leningrader Turgenjew-Forscherin L. Kusmina erstmals hingewiesen hat.


[28] Erste Liebe. In: Iwan Turgenjew. Erste Liebe. Erzählungen. Deutsch von Herbert Wotte. Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag 1994 (= Iwan Turgenjew. Gesammelte Werke in Einzelbänden. Herausgegeben von Klaus Dornacher), S. 58-130. Zu Text und Kontext der Erzählung „Erste Liebe“ vgl. Rolf-Dieter Kluge: Iwan Turgenjew: Erste Liebe. In: Die russische Novelle. Herausgegeben von Bodo Zelinsky. Düsseldorf: Schwann-.Bagel 1982, S. 63-72. Eine Einzelausgabe der Erzählung „Erste Liebe“ erschien bei Reclam in Stuttgart, Russisch und Deutsch. Übersetzung von Kay Borowsky. Mit einem Nachwort von O. Appel. Ohne die Erzählung „Erste Liebe“ war bei Reclam erschienen: Iwan Turgenjew: Erzählungen. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Konrad Fuhrmann. Stuttgart 1991 (inzwischen vergriffen). Der Band vereinigt:  Ein Hamlet aus dem Kreise Schtschigry, Mumu, Asja, Eine seltsame Geschichte, Ein König Lear aus dem Steppenland, Der Traum, Das Lied von der siegenden Liebe. Eine sehr gute Auswahll findet sich auch in Iwan Turgenjew: Meistererzählungen. Übersetzung aus dem Russischen und Nachwort von Erich Müller-Kamp. Zürich: Manesse Verlag 1973. Darin: Erste Liebe, S. 113-214.  Ein neues Interesse an Turgenjew signalisiert die Ausgabe: Iwan S. Turgenjew: Liebesgeschichten. Aus dem Russischen von Erna Baer und den Übersetzern der Mitauer Ausgabe. Mit einem Nachwort und einer Zeittafel von Jurij Murasov. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2013. Darin: Asja, Eine Unglückliche, Das Lied von der triumphierenden Liebe. Vgl. hierzu: Nicholas G. Zekulin: Turgenev’s Pesn‘ torzhestvuiushchei liubvi (The Song of Triumphant Love): The Flaubert Connection. In: Canadian Slavonic Papers. Vol. LV, Nos. 1-2, March-June 2013, S. 215-236.


[29] Gedichte in Prosa. Deutsch von Georg Schwarz. In: Iwan Turgenjew: Gedichte in Prosa. Komödien. Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag 1994 (= Gesammelte Werke in Einzelbänden), S.7-88, hier S. 79-80.  Eine amerikanische Fortsetzung finden Turgenjews „Gedichte in Prosa“ mit Sherwood Andersons „A New Testament“, New York: Boni and Liveright 1927. Walt Whitman und Turgenjew werden hier fusioniert. Erskine Caldwell hat diese para-religiöse Ausprägung des Prosagedichts mit „The Sacrelege of Alan Kent“ 1936 (with Engravings by Ralph Frizzell, Athens, Georgia, and London: The University of Georgia Press 1995) fortgesetzt, einem Unikum in seinem Oeuvre, so, wie auch „A New Testament“ ein Unikum im Oeuvre Sherwood Andersons ist, der von Turgenjew begeistert war. Ob Erskine Caldwell Turgenjew gelesen hat, wissen wir nicht. Zur „literarischen Reihe“ des Prosagedichts vgl. Adrian Wanner: Miniaturwelten. Russische Prosagedichte von Turgenjew bis Charms. Russisch-Deutsch. Zürich: Pano Verlag 2004.  Das „Nachwort“ (S. 183-197) informiert fragmentarisch zur Geschichte dieser literarischen Gattung in Europa und den USA. Hervorzuheben sind: Walter Koschmal: Das Prosagedicht als Gattung des evolutionären Wechsels. Ein Beitrag zur slavischen Komparatistik. In: Russische Literatur an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Oldenburger Symposium. Herausgegeben von Rainer Grübel. Amsterdam: Rodopi 1993, S. 143-161; sowie: David Lehman (ed.): Great American Prose Poems. New York 2003.


[30] Hamlet und Don Quijote. In: Iwan Turgenjew: Literaturkritische und publizistische Schriften. Deutsch von Walter Schade. Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag 1994 (= Gesammelte Werke in Einzelbänden), S. 303-323.


[31]  Vgl. Rauch. Aus dem Russischen von Dieter Pommerenke. In: Iwan Turgenjew: Rauch. Neuland. Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag 1974, S. 5-237. Mit einem Nachwort von Klaus Dornacher (S. 593 -609). Zur Einschätzung Irina Ratmirowas vgl. insbesondere die Ausführungen von Richard Peace: The Novels of Turgenev. Symbols and Emblems http:// eis.bris.ac.uk. Zum deutschen Umfeld vgl. “Happiness in Baden” in Leonard Schapiro: Turgenev. His Life and Times. Oxford, Toronto, Melbourne: Oxford University Press 1978, S.191-209, sowie Frank Friedeberg Seeley: Turgenev. A Reading of his Fiction. Cambridge, New York, Port Chester, Melbourne, Sydney: Cambridge University Press 1991 (= Cambridge Studies in Russian Literature), S. 235-252.  In Baden-Baden ist inzwischen am Hotel “Europäischer Hof”, Kaiserallee 2, außen ,links neben dem Haupteingang eine Tafel mit folgender Aufschrift angebracht worden: „Unter vielen hochrangigen russischen Gästen lebte hier im Sommer 1862 auch Irina Ratmirova, Heldin des Romans ‚Rauch“ von Ivan S. Turgenev (1818-1883). Der Roman hat Baden-Baden in Rußland zu hohem Ansehen verholfen.“


[32] Vgl. D. S. Mirsky: A History of Russian Literature. Comprising A History of Russian Literature and Contemporary Russian Literature. Edited and abridged by Francis J. Whitfield. New York: Alfred A. Knopf 1949. S. 198: “Long since, the issues that he fought out have ceased to be of any actual interest. (…) His work has become pure art—and perhaps it has won more from this transformation than it has lost.” Zum positiven Neuansatz des Forschungsinteresses an Turgenjew vgl. Regine Nohejl: Das lyrische Frühwerk als Schlüssel zum Schaffen Turgenevs. In: Ivan S. Turgenev. Leben, Werk und Wirkung. Beiträge der Internationalen Fachkonferenz aus Anlass des 175. Geburtstages, Bamberg, 15. bis 18. September 1993. Herausgegeben von Peter Thiergen. München: Otto Sagner 1995, S.109-136. Zu Recht hatte Uwe Grüning in seinem Essay „Moorrauch. Zum 100. Todestag Iwan Turgenjews” festgestellt: „Wie schreiend unzeitgemäß sind diese Leidenschaften, die das Leben zerstören: ein Kuss, ein heimlicher Blick, Asjas Weinen, nicht mit einem guten Wort bedacht – und sie geben uns Ruhlosigkeit und Verlorenheit für immer. (…) Ist es auch dies Unzeitgemäße, was Turgenjew für den heutigen Leser so anziehend macht? (…) Was bleibt, wenn der Moorrauch der Zeitgenossenschaft sich gelichtet hat? Ein Werk, an manchen Stellen brüchig geworden, aber an anderen voll Jugend und Schönheit. Und wir sind gewiss, dass Turgenjew auch von einer neuen Generation gelesen wird, die sich das Recht nimmt, ihn mit eigenen Augen zu lesen“ (in: Uwe Grüning: Moorrauch. Essays. Berlin: Union Verlag 1985, S. 18-19). Ein Urteil von besonderem Gewicht, weil es ja aus DDR-Zeiten zu uns spricht.


[33]  Vgl. Vladimir Nabokov: Lectures on Russian Literature. Edited, with an Introduction by Fredson Bowers. London: Weidenfeld and Nicolson 1981. Im einleitenden Kapitel, einer Rede Nabokovs an der Universität Cornell vom 10. April 1958 zum Thema “Russian Writers, Censors, and Readers” beim „Festival of the Arts,“ heißt es: „The radical critic was concerned exclusively with the welfare oft he people and regarded everything – literature, science, philosophy – as only a means to improve the social and economic situation of the underdog and to alter the political structure of his country.(…) These men who fought despotism – the fiery Belinski of the forties, the stubborn Chernyshevski and Dobrolyubov of the fifties and sixties, Mikhaylovski, the well-meaning bore, and dozens of other honest obstinate men—all may be grouped under one heading: political radicalism (…) But with all their virtues, these radical critics were as great a nuisance in regard to art as the government. Government and revolution, the Tsar and the Radicals, were both philistines in art. The radical critics fought despotism, but they evolved a despotism of their own. (...) What they demanded of an author was a social message and no nonsense, and from this point of view a book was good only insofar as it was of practical use to the welfare of the people. (,…) If in the opinion of the Tsars authors were to be the servants of the state, in the opinion of the radical critics writers were to be the servants of the masses. These two lines of thought were bound to meet and join forces when at last, in our times, a new kind of regime, the synthesis of a Hegelian triad, combined the idea of the masses with the idea of the state” (S. 4-5).l Dass Turgenjew “klüger” ist als die  zeitgenössischen “Ideologien”, demonstriert William Mills Todd III: “Artistizm Turgeneva” as a Structural Principle: Rudin and Cultural Grouping. In: Russian Literature 16 (1984), S. 323-332. Vgl. auch William Mills Todd III (ed.): Literature and Society in Imperial Russia 1800-1914. Stanford, California: Stanford University Press 1978. Darin: Victor Ripp: Turgenev as a Social Novelist: The Problem  of the Part and the Whole (S. 237-257) und Hugh McLean: Eugene Rudin (S. 259-266) In seinem Essay “Fathers and Sons. Turgenev and the Liberal Predicament” vermerkt Isaiah Berlin: “By temperament Turgenev was not politically minded. Nature, personal relationships, quality of feeling — these are what he understood best, these, and their expression in art. He loved every manifestation of art and of beauty as deeply as anyone has ever done. The conscious use of art for ends extraneous to itself, ideological, didactic or utilitarian, and especially as a deliberate weapon in the class war, as demanded by the radicals of the 1860s, was detestable to him.” In: Isaiah Berlin: Russian Thinkers. Edited by Henry Hardy and Aileen Kelly. With an Introduction by Aileen Kelly. Harmondsworth, Middlesex, England: Penguin Books 1979, S. 264.. In diesem Zusammenhang sei auch an Knut Hamsuns Einschätzung Turgenjews erinnert, wie sie in seinem Reisebericht „Im Märchenland” aus dem Jahre 1903 vorliegt: „Er wurde Europäer, mindestens ebensoviel Franzose wie Russe. Seine Menschen werden nicht von jener Unmittelbarkeit, jener Anlage zum Entgleisen, jener ‚Unstimmigkeit‘ beherrscht, die einzig dem russischen Volk zu eigen ist. Wo gibt es ein Land, wo man einen Trunkenbold, der arretiert werden soll, entwischen sehen kann, weil er den Polizisten mitten auf der Straße umarmt und küsst und um Gnade anfleht? Iwan Turgenjews Menschen sind mild und auffallend gradlinig; sie denken und handeln nicht russisch stoßweise genug. Aber sie sind sympathisch und logisch und französisch. Turgenjew war kein starkes Gehirn, aber ein  gutes Herz. Er glaubte an Humanismus, Schöne Literatur, westeuropäische Entwicklung. Daran glaubten auch seine französischen Zeitgenossen, aber nicht alle seine russischen, einige von diesen, wie Dostojewskij und Tolstoj, machten einen Knick in seine Gradlinigkeit. Wo der Westeuropäer das Heil sah, sahen diese Hoffnungslosigkeit, und sie verfielen der unmodernsten Gottesanbetung der siebziger Jahre: der Anbetung Gottes. Iwan Turgenjew blieb standhaft, er hatte nun einmal den breiten, klaren Weg gefunden, den damals alle Mittelmäßigkeit fand, der Weg passte ihm, und er ging ihn. Es heißt von ihm, ‚als er von seinem Universitätsstudium in Berlin heimkehrte, brachte er einen frischen Kulturluftzug mit sich.‘ Und als er auf dem Totenbette lag, schrieb er einen rührenden Brief an Tolstoj und flehte diesen an, zu seiner Gradlinigkeit zurückzukehren und mehr Schöne Literatur zu machen. Er würde überglücklich werden, wenn diese Bitte erhört würde.“ Vgl. Hamsun: Im Märchenland. Reisebilder. München und Wien: Langen/Müller 1979, aus dem Norwegischen von Cläre Grevenus Mjöen, S. 133-134. Hier macht sich ganz offensichtlich ein Klischee-Bild der russischen Seele breit, dem Turgenjew nicht entsprechen kann. Der gleichen Tendenz zum Klischee-Bild entspricht, nebenbei vermerkt, Hamsuns Abwertung der amerikanischen Kultur als Kulturlosigkeit in seinen auf systematische Entwertung bedachten Essays über Mark Twain, Ralph Waldo Emerson und Walt Whitman von 1889, auf Deutsch erschienen unter dem Titel „Drei Amerikaner“ 1959, ebenfalls bei: Langem/Müller in München. Am besten kommt dabei noch Mark Twain weg, aber auch nur mit dem Argument, feine Ironie seii ihm fremd, sein anzuerkennender Humor sei derb und für jeden Amerikaner verständlich. Und Walt Whitman wird bescheinigt, nur sein Gedicht „Sometimes with One I Love,“ sei so schön, dass man meint, seine Mutter oder ein anderer vernünftiger Mensch habe diese Zeilen geschrieben.


[34]   Vgl. René Wellek: A History of Modern Criticism: 1750-1950. Volume 4: The Later Nineteenth Century. New Haven and London: Yale University Press 1971. Darin: The Russian Radical Critics, S. 238-265. Beiträge über „Turgenjew und die russische revolutionäre Bewegung“ enthält der sowjetische Sammelband: I. S. Turgenev: Novye materialy i issledovanija. Moskau: Izdatel’stvo „Nauka“ 1967 (= Literaturnoe nasledstvo; Band 76), S. 146-334. Zur Turgenjew-Forschung unter Lenin und Stalin vgl. Peter Brang: Turgenev in der russischen Literaturwissenschaft 1917-1954. In: Zeitschrift für slavische Philologie, 24 (1956), S. 182-215 und S. 358-410. Eine umfassende Dokumentation der Äußerungen Turgenjews zu seinem literarischen Handwerk liefert Band 2 der von  B. Mejlach  herausgegebenen vierbändigen Textsammlung: Russkie pisateli o literaturnom trude (Leningrad: Sovetskij pisatel‘ 1955). Darin: I. S,. Turgenev, S. 715-788.


[35]  Vgl. Martin Heidegger: Brief über den „Humanismus“ (1946). In: Heidegger, Wegmarken. Frankfurt am Main: Klostermann1976 (= Gesamtausgabe, Bd. 9), S. .313.-364.


[36]  Vgl. hierzu Horst-Jürgen Gerigk: „Drei Begegnungen“. Turgenjews Psychologie der Liebe. In: Gerigk, Puschkin und die Welt unserer Träume. Zwölf Essays zur russischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Ulm: Humboldt-Studienzentrum 2011 (= Bausteine zur Philosophie, Bd. 30), S. 81-102.

Horst-Jürgen Gerigk: Turgenjew heute. Seine Bedeutung für das literarische Bewusstsein unserer Gegenwart
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