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Rhein-Neckar-Zeitung, Montag, 10. Juni 2013
Captain Ahab als Prototyp
Der Hass als Thema in den Wissenschaften und Künsten - Eine Neuerscheinung aus dem Heidelberger Mattes Verlag
Von Heide Seele
Hass kann sich durch bedrückende Erfahrungen zusammenballen und unvermutet entladen, etwa bei einem Amokläufer. Die Katastrophe ist dann der Allgemeinheit unverständlich, und Ursachenforschung
gestaltet sich schwierig. Es sind nicht nur gestörte Persönlichkeiten, die plötzlich die Kontrolle über sich verlieren. Auch ein in sich ruhendes Individuum kann sich durch bestimmte Umstände so
bedrängt fühlen, dass Rachegedanken aufkommen, die es im schlimmsten Fall, getrieben von Hass (und Hilflosigkeit), in die Tat umsetzt.
Der Hassende ist immer ein unglücklicher Mensch und richtet sich oft selbst zugrunde. Dem Ausbruch von Hass geht häufig eine angestaute Wut voraus. Das belegen nicht nur Attentate von Einzelnen in
den USA, Deutschland und anderswo, sondern auch die politisch motivierten Untaten in aller Welt.
Dem Phänomen „Hass" und seiner „Darstellung und Deutung in den Wissenschaften und Künsten" gilt jetzt eine lesenswerte Neuerscheinung, die dem komplexen Phänomen aus unterschiedlichen Perspektiven zu
Leibe rückt. Die Herausgeber Horst-Jürgen Gerigk und Helmut Koopmann bieten eine Kurz-Einführung und weisen auch auf die produktive Auswirkung von Hass hin, etwa in den Hassphantasien der Kunst. Die
zwölf Untersuchungen informieren über die Facetten dieser „Alltagserscheinung", die auch durch erlittene Kränkungen hervorgerufen wird.
Definitionen von Hass sind schwierig. Das macht auch der Sammelband deutlich, der hervor ging aus einem Symposium an der Universität Augsburg „Hass: Darstellung und Deutung in den Wissenschaften und
Künsten". Die Psychiatrie kam ebenso zu Wort wie die Psychoanalyse, Literatur, Religion und Politik, Soziologie, Philosophie und Kunst. Auch der Film wurde einbezogen. In Matthias Hursts Essay „Ahabs
Enkel. Hass als archaische Kraft im populären amerikanischen Kino" bildet der legendäre Film „Moby Dick" nach Herman Melvilles Roman den Ausgangspunkt. Der Autor bezeichnet den Captain Ahab, der bei
der manischen Verfolgung des weißen Wals mit seinem Schiff „Peqod" ein Bein verlor, als die Inkarnation eines irrational-unerbittlichen Hasses. Mit einer aus den Kieferknochen eines Pottwals
gezimmerten Prothese setzt er seine irrsinnige Jagd fort, bis es zum finalen Showdown kommt. Ahab als Prototyp.
Helmut Koopmann (Augsburg) eröffnet den Reigen der Beiträger mit dem Hass der Exulanten während der Nazizeit am Beispiel von Heinrich und Thomas Mann, die wie andere Auswanderer glaubten, den Hass
der Nazis lediglich mit Hass bekämpfen zu können. Koopmann definiert den Hass als irrationale Erscheinung und geht weit zurück bis zu den Erfahrungen der Exulanten Cicero, Ovid und Seneca.
Mitherausgeber Horst-Jürgen Gerigk (Universität Heidelberg) widmet sich dem Hass in phänomenologischer Sicht am Beispiel von Max Scheler, Alexander Pfänder und José Ortega y Gasset (mit einem
Seitenblick auf Immanuel Kant). Er merkt an, dass seine Ko-Autoren Hass nicht separat als Phänomen behandeln, sondern bezogen auf sein Gegenteil, die Liebe, und zitiert Schelers Diktum „In Liebe und
Hass liegt eine eigene Evidenz, die nicht an der Evidenz der Vernunft zu messen ist." Horst Dilling schildert „Hass, Destruktivität und Aggression in der Psychiatrie und Psychotherapie". Manfred
Misch greift ein brisantes Thema auf mit seiner Untersuchung zu „Hass im Zuge der Wiedervereinigung und in der Auseinandersetzung mit der DDR in Romanen der 1990-er Jahre". Er geht auf die Reaktionen
in der Nach-Wende-Literatur ein und stellt fest, dass sich diese im Osten wie im Westen erschreckend ähnlich waren: Die DDR galt vielen immer noch als der bessere Staat. Ausnahmen aber waren
Persönlichkeiten wie der „Staatsfeind" Jürgen Fuchs. Der paktierte nicht mit den Mächtigen und war ihren Hasskampagnen ausgesetzt. Rudolf Neuhäuser untersucht „Varianten des Hasses in Religion,
Literatur und Politik" und konfrontiert diese mit zwei Gegenbeispielen von Maxim Gorkij und Rudolf Hagelstange.
Während Matthias Bormuth den „Hass bei Friedrich Nietzsche - Pathographische Aspekte des Antichrist" untersucht, geht Walfried Linden auf den „Hass bei Gottfried Benn" (Psychopathologie einer
narzisstischen Persönlichkeit) ein, und Gisela Charlotte Fischer thematisiert den Hass als Grundmotiv in Elfriede Jelineks Roman „Die Klavierspielerin".
Dietrich Erben stellt in seinem Essay „Hass auf Kunst" fest, dass die Darstellung des Hasses nie explizit zum Thema der Kunst gemacht wurde. Pia Daniela Schmücker breitet psychoanalytische Gedanken
zum Hass aus, indem sie auch Beispiele aus der Literatur anführt wie Elektra, und Ulrich Diehl klopft zum Abschluss Piatons „Phaidon" Dialog auf die darin zutage tretenden Themen Misologie (Hass auf
die Vernunft) und Misanthropie (Hass auf den Menschen) ab.
Info: Horst-Jürgen Gerigk, Helmut Koopmann (Hrsg.): „Hass. Darstellung in den Wissenschaften und Künsten". Mattes Verlag, Heidelberg 2013. 245 S., 24 Euro.