Prof. Dr. Horst-Jürgen Gerigk
Prof. Dr. Horst-Jürgen Gerigk

„This Land Is My Land…!“
Der Streit um das Land und andere ethische Konflikte im Kinowestern
3. Internationale Arnoldshainer Western-Tagung
1. bis 3. Mai 2014

 

 

Horst-Jürgen Gerigk

 

Zur Topologie des Western, am Beispiel von
Cecil B. DeMilles „Union Pacific“ (1939)

 

Vorbemerkung

 

Cecil B. DeMille lebte von 1881 bis 1959. „Union Pacific“ von 1939 ist sein letzter Schwarz-Weiß-Film. Danach drehte er nur noch in Farbe. Die Roman-Vorlage für „Union Pacific“ stammt von Ernest Haycox [1] und war 1937 unter dem Titel „Trouble Shooter“ [2] erschienen (bereits 1936 in der Zeitschrift „Collier’s“). Ernest Haycox lebte von 1899 bis 1950 und veröffentlichte ab1929 vierundzwanzig Wildwest-Romane sowie zahlreiche  Erzählungen über das gleiche Milieu, darunter auch „Stage to Lordsburg“, [3] die durch John Fords „Stagecoach“ von 1939 weltberühmt wurde. Auch andere  Werke von Ernest Haycox wurden verfilmt, berühmt aber, als Film, wurden nur „Union Pacific“ und „Stagecoach“.

Mit seinen  Romanen und Erzählungen setzt Ernest Haycox die Tradition eines Zane Grey fort, der von 1872 bis 1939 lebte und mit seinen Wild-West Geschichten, wie seine Biographin Ann Ronald hervorhebt, mehr Geld  verdiente als all seine Zeitgenossen Jack London, Sherwood Anderson, Theodore Dreiser, F. Scott Fitzgerald, Ernest Hemingway, John Dos Passos, William Faulkner zusammen genommen [4]. Und das liege allein daran, dass Grey die Welt mit einer rosaroten Brille betrachte, im Gegensatz zur Skepsis seiner zeitgenössischen   Kollegen. Der klassische Western lebt von der heilen Welt, die durch den Helden wieder ins Lot gerückt wird, nachdem sie gefährdet wurde. Zane Greys Leserschaft wird auf 250 Millionen geschätzt.

Neben Zane Grey und Ernest Haycox sind es Owen Wister (1869-1938) [5] und Jack Schaefer (1907-1991)[6], die nur mit einem einzigen Roman populär wurden. Owen Wister mit „The Virginian. A Horseman of the Plains“ von1902 [7] (mehrfach verfilmt, bereits 1914 als Stummfilm von Cecil B. DeMille), und Jack Schaefer mit „Shane“ von 1949 [8], verfilmt von George Stevens im Jahre 1953. Stevens lebte von 1904 bis 1975 und hat mit seinen Filmen „Shane“ (1953), „A Place in the Sun“ (1951, nach Dreisers „An American Tragedy“) und „Giant“ (1956, nach Edna Ferbers gleichnamigen Roman) eine Trilogie geschaffen, die die Geschichte der USA von der „Frontier“ in Wyoming im Jahre 1889 bis zur Herrschaft der Erdöl-Barone in Texas im 20. Jahrhundert anschaulich nacherzählt, mit jeweils einem typischen Beispiel in der Hauptrolle: Revolverheld, der die gute Sache vertritt (gespielt von Alan Ladd), Aufsteiger, der aus Angst vor der „geldlosen Finsternis“ schuldig wird und auf dem elektrischen Stuhl landet (gespielt von Montgomery Clift) [9], plötzlicher Reichtum eines jungen Ranchers durch ererbte Bodenschätze, hier Ölquellen in Texas (gespielt von James Dean).

 

Fokus: Union Pacific

 

Wenden wir uns nun „Union Pacific“ zu. Es geht um die Topologie des Western überhaupt, das heißt: um die systematisierte Topographie eines Film-Genres. Der Western hat es seiner Natur nach immer mit einem ganz bestimmten Abschnitt der amerikanischen Geschichte zu tun. Dieser Abschnitt betrifft die Herstellung des Staates an der „Grenze“. Grenze hier verstanden als „Frontier“, ein Grenzgebiet, das den funktionierenden Staat vom „Wilden Westen“ trennt, wo „law and order“ noch nicht an der Tagesordnung sind. Ein Western, ob Roman oder Film, erzählt immer wieder ein und dieselbe Geschichte, allerdings in tausend Variationen: die Herstellung des Staates durch den Mut eines Einzelnen, der es auf sich nimmt, ein Held zu sein und den Gegner der offenen Gesellschaft zu erschießen. Immer geht es um die Bejahung von Gewalt und Selbstjustiz im Namen der guten Sache, die ohne solche Gewalt und  Selbstjustiz auf der Strecke bleiben würde. In dieser Funktion eines Retters und Erlösers gewinnt der Western-Held eine religiöse Funktion. Er verlässt denn auch die Gemeinschaft wieder, nachdem er sie von ihren Teufeln  befreit hat und reitet einsam, wie er gekommen ist, davon  in Richtung der untergehenden Sonne.

Dieser mythische Kern des Geschehnisverlaufs wird von verschiedenen  Autoren und Regisseuren mehr oder weniger realistisch  veranschaulicht, das heißt realistisch psychologisiert. Denn der Western-Held ist seiner Natur nach kein normaler Sterblicher, sondern die Allegorie eines politisch-sozialen Prinzips, muß aber, um anschaulich zu werden, als Mensch unter Menschen  gestaltet  werden. Der Western-Held veranschaulicht mit seinem Handeln das Hervorgehen des Staates aus der Vorstaatlichkeit.  Das Gesetz wird durch ihn an der Grenze (Frontier) zur Wirklichkeit, ohne dass er selber ein offizieller Vertreter des Gesetzes wäre.

So umgibt etwa Jack Schaefer seinen Helden Shane mit der Aura einer magischen Siegesgewissheit und psychologisiert diese Aura dadurch, dass Shane wie eine erträumte Gestalt des  Knaben der Familie Starrett erscheint, was der Regisseur George Stevens durch ständige Einblendung des beobachtenden Knaben Joey Starrett während des schließlichen Showdowns ins Bild rückt.

Und in John Fords  „Stagecoach“ (1939) bleibt John Wayne auf den sechs Pferden, die er in vollem Trab bändigt, wie von Götterhand beschützt vor dem Pfeilregen der angreifenden Indianer und geht am Ende  aus seiner völlig allein praktizierten Selbstjustiz gegen alle  Erwartung siegreich hervor, um sich mit Claire Trevor, der Prostituierten, in ein trautes Heim zurückzuziehen: mit  Stephen Fosters Liebeslied „Jeanie with the Light Brown Hair” als idyllischer Hintergundsmusik.

Auch „High Noon“ (1952) lässt den Sieg des von allen  verlassenen Marshal Kane über die vier apokalyptischen Reiter auf der menschenleeren Dorfstraße als geschützt von magischen Kräften erscheinen,  die sogar noch eine junge Quäkerin mit ihrem tödlichen Schuss aus dem Hinterhalt in ihren Dienst nehmen. Wohin man blickt: realisierte Utopie siegreicher Selbstjustiz im Namen der guten Sache gegenüber einem scheinbar allmächtigen Gegner, wobei zu „High Noon“ anzumerken bleibt, dass Marshal Kane am Tag seiner Hochzeit seinen „Tin Star“ an den Nagel hängt  und mit seiner Frau die Stadt verlässt, noch  bevor ein Nachfolger gewählt wurde. Als er dann  plötzlich mit seiner Frau zurückkehrt, um dem aus dem Gefängnis unerwartet entlassenen Frank Miller und seiner Gang entgegenzutreten, handelt er zwar de facto als Marshal, aber de jure in eigenem Auftrag innerhalb eines Interregnums der Amtsinhaber. Während des Showdowns ist der „Staat“ noch nicht wieder anwesend, so dass die klassische Situation des Western-Helden vorliegt, der als Individuum persönlich das Gesetz bringt, „auf seinen Schultern“.

Auf dem Hintergrund dieser Überlegungen ist nun die Frage zu beantworten: Wie sieht die Situation des Helden in „Union Pacific“ aus? Der Held heißt Jeff Butler (gespielt von Joel McCrea) und wurde von dem Unternehmer, der den Bau der ersten transkontinentalen Eisenbahn durchführt, als „Trouble Shooter“ eingesetzt, das heißt: als privater Streitschlichter und Ordnungshüter, der, wenn es sein muß, zur Waffe greift mit dem einzigen Ziel, das zivilisatorische Projekt „Streckenbau“ von allen Störungen freizuhalten. Als „Trouble Shooter“ ist Jeff Butler zweifellos eine allegorische Gestalt: der personifizierte Geist der Union Pacific.

Mit der Arbeiterkolonne des voranschreitenden Streckenbaus sind auch Vergnügungslokale und Spielhöllen verbunden, deren Betreiber nichts daran gelegen ist, dass der Bau fertig wird, weil damit eine beträchtliche  Einnahmequelle verschwinden würde. Auch dieses  flankierende Milieu des  Streckenbaus und seine Interessen werden personifiziert: in Sid Campeau (gespielt von Brian Donlevy). Auch das Unrecht, das ein aggressiver Falschspieler anrichtet (Jack Cordray, gespielt von Anthony Quinn), der von Jeff Butler erschossen wird, betrifft den Streckenbau, der schließlich auch noch von angreifenden Indianern verzögert wird, die einen Wasserturm auf die Gleise stürzen lassen und die umgestürzten Waggons plündern und zerstören, aufgewiegelt von Sid Campeau, der im Auftrag von Asa Barrows, dem Bankier, Unruhe stiftet.

Wir befinden uns im Jahre 1868. Das Ende des amerikanischen Bürgerkriegs liegt nur zwei Jahre zurück. Und natürlich muss Jeff Butler jetzt einen Freund wiedertreffen, mit dem zusammen er einst gegen die Südstaaten gekämpft hat, der aber jetzt auf der Gegenseite steht: Dick Allen (gespielt von Robert Preston).

Aber nicht nur das: da ist auch noch die Posthalterin der Arbeiterkolonie: Molly Monahan (weibliche Hauptrolle, gespielt von  Barbara Stanwyck) mit ihrem Vater, dem Lokführer. Sie ist die Freundin Dick Allens, heiratet ihn sogar, obwohl sie Jeff Butler liebt, den sie am Ende auch bekommt, nachdem Dick Allen von Sid Campeau erschossen wurde. Nicht zufällig lautete der erste deutsche Titel des Films „Die Frau gehört mir“. Es ist Dick Allen der diesen Satz zu Jeff Butler sagt.[10]
Aus diesem Personenkreis, aus dem die Allegorie der Eroberung eines Kontinents hervorgeht, bezieht die Handlung ihre Dynamik. Die psychologischen Konflikte, aus der die Handlung ihre Überzeugungskraft bezieht und für uns nachvollziehbar wird, sind gleichzeitig historische und damit allegorische Konflikte, die einen Ausschnitt der Geschichte der USA rekonstruieren. DeMilles Western will psychologisch und historisch betrachtet sein. In der historischen Betrachtung wurzelt mein heutiges Thema: die „Topologie des Western.“

Wie also sieht die Situation des Helden in „Union Pacific“ aus?  Mit dieser Frage betreten wir das hier vorliegende Problemfeld. Jeff Butler vertritt als „Trouble Shooter“ die Vernunft in der Geschichte. „Trouble Shooter“, das ist ein Streitschlichter, der regelrecht gemietet wird, um beim Streckenbau Recht und Ordnung zu wahren und, wo nötig, mit Waffengewalt herzustellen. Ihm sind zwei „Leibwächter“ an die Seite gestellt, der eine mit Peitsche, der andere mit Revolver, die begeistert ihre „Arbeit“ tun (zwei Glanzrollen für Akim Tamiroff und Lynne Overman). Jeff Butler vertritt das Gesetz in der „Stadt auf Rädern“, so wird im Film die Eisenbahn als Lebenswelt des Streckenbaus genannt. Eine einleuchtende Formulierung für einen komplexen Sachverhalt. Unverkennbar die patriotische Orientierung. Gleich zu Beginn des Films wird Abraham Lincoln beschworen. Darüber hinaus aber impliziert die Allegorie den Triumph des „agonalen Individuums“, das im Wettkampf sein Profil erhält. So befinden sich hier Central Pacific und Union Pacific im Wettstreit für die gute Sache einer Verbindung zwischen zwei Ozeanen, dem atlantischen und dem pazifischen. Der goldene Nagel, der schließlich in die verbindende Schwelle eingeschlagen wird, kennzeichnet das gemeinsame Ziel dieses Wettstreits: den Ruhm der Vereinigten  Staaten von Amerika progressiv zu etablieren.

DeMilles „Union Pacific“ wimmelt geradezu von Charakteren und Situationen, die für den Western, wenn wir heute zurückblicken, typisch sind. Bereits 1937 hatte DeMille den Western „The Plainsman“ herausgebracht (deutsch: „Der Held der Prärie“), mit Gary Cooper als Wild Bill Hickok und Jean Arthur als Calamity Jane in den Hauptrollen. Ein großer Erfolg. Musik: George Antheil. Alles Kenner und Könner. Vorausgegangen war, ich erwähnte es schon, DeMilles „The Virginian“ aus dem Jahre 1914 (mit Dustin Farnum in der Titelrolle).
Speziell für „Union Pacific“ ist John Fords Stummfilm „The Iron Horse“ von 1924 [11] als Vorläufer und Vorbild zu nennen: auch hier Streckenbau quer durch den Kontinent mit den immer weiter vordringenden Saloons am „End of the Track“. Dieser Stummfilm von 1924 wie auch unser Tonfilm von 1939 über ein und dasselbe Thema dürfen als zwei Meisterwerke je eigenen Rechts gelten. Durchgehend ist bei DeMille, was die Musik betrifft, eine Instrumentalversion des Liedes „Oh My Darling Clementine“ als ironische Untermalung der melodramatischen Liebesgeschichte  einer Frau zwischen zwei Männern.[12]

Gehen wir nun ins Detail. Der Film beginnt in Washington im Weißen Haus: Die amerikanische Regierung diskutiert und plant, noch unter Abraham Lincoln, eine Eisenbahnlinie von St. Louis bis Kalifornien zu bauen: Union Pacific. Aus diesem Plan, der ab Frühjahr 1868, als Lincoln bereits tot ist, in die Tat umgesetzt und am 10. Mai 1869 mit dem goldenen Nagel vollendet wird, entwickelt sich die Handlung, die von verschiedenen gegenläufigen Interessen bestimmt wird. Der Bankier Asa Barrows übernimmt die Finanzierung, investiert aber insgeheim in die Central Pacific und ist deshalb an einem schnellen Ausbau der Union Pacific gar nicht interessiert. Ja, er unterstützt den Abenteurer Sid Campeau darin, mit Saloons und Bordellen jeweils am Ende der Strecke („end of the track“) die Gleisleger von der Arbeit abzuhalten, die ihren Lohn sofort in seinen Vergnügungslokalen ausgeben. Nur der „Trouble Shooter“ vertritt prinzipiell die Vernunft in der Geschichte: er sorgt für Recht und Ordnung. Seine Gewalt geht aber nicht vom Staate aus, sondern von einem Unternehmer, der eine Eisenbahnlinie bauen will. Den Streckenbau leitet General Greenville Dodge (gespielt von Francis J. McDonald),  das Kommando über die Streckenleger führt General Jack Casement (gespielt von Stanley Ridges).

Ich erinnere an das Thema meines heutigen Vortrags: Zur Topologie des Western, am Beispiel von Cecil B. DeMilles. „Union Pacific“. Das heißt: Es soll an diesem einen Beispiel etwas sichtbar gemacht werden, das für alle Western gilt. Und das ist, vor allem anderen, die Darstellung einer Gesellschaft am Rande der Zivilisation, an der „Grenze“ (Frontier), wo der Staat noch nicht herrscht, wo sich die Gesellschaft aber auf den Staat zubewegt – geführt von Persönlichkeiten, die es auf sich nehmen, das Gesetz zu bringen. Diese Persönlichkeit ist hier Jeff Butler. Und der Bau der Eisenbahnlinie als Eroberung des Wilden Westens veranschaulicht die Verlagerung der „Grenze“ (Frontier) immer weiter nach Westen. „The Track“ wird darüber hinaus zur Metapher für den Lebensweg des Individuums, das hier ganz „agonales Individuum“ ist, das sich im Wettkampf mit anderen profiliert.

Diese Allegorie beherrscht nicht nur die Arbeit der Gleisleger sowie die Aktivitäten ihrer Verzögerer (Campeau und Barrows), sondern auch die Liebesgeschichte, die uns Mollie Monahan zwischen zwei Männern zeigt: Jeff Butler und Dick Allen, von denen sie aber nur einen liebt: Jeff Butler, obwohl sie den anderen heiratet.  Dick Allen bleibt im wahrsten Sinn des Wortes auf der Strecke, wird, man beachte die Allegorie, von Sid Campeau erschossen, mit dem er paktiert hat, während Jeff Butler von einem seiner Leibwächter gerettet wird, der Sid Campeau erschießt, bevor dieser Jeff Butler erschießen kann. Kurzum: Die Allegorie der Landgewinnung als nationales Anliegen der Vereinigten Staaten schlägt alles in ihren Bann. Man denke nur an das berühmte und inzwischen berüchtigte Buch von Frederick Jackson Turner aus dem Jahre 1920: „The Frontier in American History“. [13] Hierzu gehört in „Union Pacific“ auch die vollständig negative Darstellung der Indianer, die einen Zug überfallen und plündern. Erst als professionelle Soldaten eintreffen, werden sie unter großen Verlusten vertrieben.  Der Streckenbau der Union Pacific vereinigt auf natürliche Weise alle nur denkbaren Topoi des Western: da ist die Büffelherde, die über die Schienen wandert und die Natur in Erinnerung bringt,  da ist der Saloon mit dem großen Spiegel hinter der Bar, der die Hinterlist  sehen lässt,  da ist der Falschspieler, der aufgedeckt und beseitigt wird. Auch die Männerfreundschaft gehört ins Bild --- und der Showdown, der hier zweimal verunglückt: Sid Campeau drückt auf den falschen Mann ab, und als er den richtigen erschießen will, wird er selber zu Recht von einem ungesehenen Dritten erschossen. All diese so verschiedenen Konstellationen unterliegen der Sinnbewegung einer Gesellschaft, die unterwegs ist zum Staat. Diese Sinnbewegung verbindet alle Western miteinander und lässt die Topographie zur Topologie werden, sobald man dafür einen Blick entwickelt. Topographie bleibt deskriptiv, während Topologie  die Einsicht in die sachliche Notwendigkeit der typischen Situationen und der sie tragenden  Charaktere voraussetzt.

Abschließend sei vermerkt, dass Hollywood eine Fortsetzung des Boulevardromans des 19. Jahrhunderts ist, zu dem Alexandre Dumas, père, Eugène Sue, aber auch Dickens und Dostojewskij berühmte Beispiele geliefert haben. Immer geht es darum, ein breites Publikum in Bann zu schlagen; und dazu sind Sensationen jeglicher Art gefordert sowie „Reiz und Rührung“, das heißt: ein deutlicher und furchtloser Überhang zum Kitsch. Dies trifft auch auf DeMilles „Union Pacific“ zu: der hier demonstrierte amerikanische Patriotismus wirkt wie eine Selbstparodie, auch ist eine primitive Frömmigkeit zu verzeichnen: Mollie Monahan (Kennmarke: Halskettchen mit Kreuzanhänger) betet, bevor die Soldaten eintreffen und die Indianer massenweise erschießen, so dass die Rettung in letzter Minute wie eine göttliche Fügung aussieht. Die Liebesgeschichte zwischen Mollie und Jeff hat ihre sentimentalen Höhepunkte, bis sie endlich zueinander finden, weil Dick Allen ja plötzlich tot ist, aus Versehen erschossen von Sid Campeau. Und Lokführer Monahan, Mollies Vater, liefert das poetische Diktum: „Es gibt nichts Schöneres als den Pfiff einer Lok in der Stille der Nacht“, bevor er dann unter seiner Lok, die aus den Schienen springt, umkippt und ihn unter sich begräbt, den Tod eines Märtyrers stirbt: im Dienste der Union Pacific. Er unterhielt sich mit seiner Lok wie mit einem Menschen.

Mit solchen Eigenheiten können gewiss manche nichts anfangen. Und doch verdient die gekonnte und virtuose Verständnislenkung Cecil B. DeMilles unsere ungeteilte ästhetische Aufmerksamkeit. Die Achtung vor dem suggestiven Detail verliert hier nie das Ganze aus dem Blick. Im konturscharfen epischen Getümmel bleiben die drei Hauptpersonen Joel McCrea, Barbara Stanwyck, Robert Preston auf natürlichste Weise durchgehend im Zentrum. Hollywood weiß, wie ein gut gemachter Film auszusehen hat. Von großer Filmkunst kann denn auch hier durchaus uneingeschränkt die Rede sein. Nicht nur der Überfall der Indianer und das Eintreffen der Kavallerie mit einem Güterzug gehören zu den Highlights der Filmgeschichte. „Union Pacific“ liefert zweifellos keinen Anlass, Adorno zuzustimmen, der feststellte, wenn er ins Kino ging, sei er immer dümmer herausgekommen, als er reingegangen ist. [14]

 

Anmerkungen

 

[1] Richard W. Etulain: Ernest Haycox. Boise, Idaho: Boise State University 1988 (= Boise State University Western Writers Series; 86).

 

[2] Ernest Haycox: Trouble Shooter. Boston, Mass.: G. W. Hall & Co. 1981.

 

[3] Ernest Haycox: Stage to Lordsburg. In: Stagecoach. A Film by John Ford and Dudley Nichols. London: Lorrimer Publishing 1984 (= Classic Film Scripts), S. 5-18.

 

[4] Ann Ronald: Zane Grey. Boise, Idaho: Boise State University 1975 (= Boise State University Western Writers Series; 17), S, 5.

 

[5] Richard W. Etulain: Owen Wister. Boise, Idaho: Boise State College 1973 (= Boise State College Western Writers Series; 7)

 

[6] Gerald Haslam: Jack Schaefer. Boise, Idaho: Boise State University 1975 (= Boise State University Western Writers Series; 20).

 

[7] Owen Wister: The Virginian. A Horseman of the Plains. With Paintings by Frederic Remington and Drawings by Charles W. Russel. Introduction to the Bison Book Edition by Thomas McGuane. Lincoln and London: University of Nebraska Press 1992.

 

[8] Jack Schaefer: Shane. The Critical Edition. Edited by James. C. Work. Foreword by Marc Simmons. Lincoln and London: University of Nebraska Press 1984. Vgl. auch Jack Schaefer: Shane. Illustrated by John McCormack. Boston: Houghton Mifflin 1954. Mit sechzehn ganzseitigen Schwarz-Weiß-Zeichnungen sowie einem Foto des Autors im Klappentext. Die Musik zum Film von George Stevens (deutscher Titel: Mein großer Freund Shane) schrieb Victor Young. Der Titelsong wird im Film nicht gesungen, ist nur in einer Instrumentalversion zu hören, wurde aber mit Text zum Schlager: „There is no rest on the prairie,/ there is no rest for a restless soul / who just was born to roam, / and I here sweet and near / the call of the far-away hills.“

 

[9] Zur kritischen Kennzeichnung der Änderungen, die dieser Film an Dreisers Roman vorgenommen hat, vgl. Eugene Huddleston: What a Difference Thirty Years Make: A Place In The Sun Today. In: The Dreiser Newsletter. Terre Haute Indiana: English Department, Indiana State University, Fall 1984, S. 1-12.

 

[10] Vgl. Union Pacific. In: Joe Hembus: Western-Lexikon. 1272 Filme von 1894-1975. Mit einem Vorwort von Sergio Leone. München: Hanser 1976, S. 640-642; des weiteren vgl. Jerry Vermilye: Barbara Stanwyck. Ihre Filme -- ihr Leben. München: Heyne 1988 (= Heyne Filmbibliothek, Nr. 32/125), S. 81-82; Phil Koury: Yes, Mr. DeMille. New York: G. P. Putnam's Sons 1959. Zu „Die Frau gehört mir” vgl. auch Michael Hanisch: Western. Die Entwicklung eines Filmgenres. Berlin (DDR): Henschelverlag Kunst und Gesellschaft 1984, S. 191-194 (reich bebildert). Halliwell’s Film and Video Guide, edited by John Walker. London: Harper Collins, Revised and Updated 12th Edition 1997, worin jeder Film in einem einzigen Satz zusammengefasst  wird, vermerkt über „Union Pacific“: „Indians and others cause problems for the railroad builders.“ Unter anderem wird die Zeitschrift „Photoplay“ zitiert mit dem Urteil: „A movie in the old tradition, melodramatic and breathtaking and altogether wonderful.”  Und „Motion Picture Herald“ schrieb: „Excitement is the dominant emotion, with swift succession of contrasting materials and episodes, grim and gay, often furious, sometimes funny. The narrative and action take hold at the start and never let go.” (S. 789)

 

[11] Vgl. Das eiserne Pferd. In: Joe Hembus: Western-Lexikon, op. cit., S. 166-168. Dort auch (S.166-167) ausführliches Zitat, diesen Film betreffend, aus Peter Handkes Roman „Der kurze Brief zum langen Abschied“ von 1972. Vgl. des weiteren: Die transkontinentale Eisenbahn, in: Joe Hembus: Western-Geschichte.1540 bis1894. Chronologie, Mythologie, Filmographie. München, Wien: Hanser 1979, S. 250-254.

 

[12] Der erste Text des Liedes stammt aus dem Jahre 1863 (von H. S. Thompson), der neue Text aus dem Jahre 1884 (von Percy Montrose). Im Film wird kein Text gesungen. Der neue Text ordnet Clementine dem Goldrausch in Kalifornien zu. Vgl. Ken Emerson (ed.): Stephen Foster & Co. Lyrics of America’s First Great Popular Songs. New York: The Library of America 2010, S. 128 und 148.

 

[13] Reprint 1986: Malabar, Florida: Robert E. Krieger Publishing Company. With a Foreword by Ray Allen Billington.  Darin als erstes Kapitel der Aufsatz von 1893: The Significance of the Frontier in American History, S. 1-38 (vorgetragen zuerst am 12. Juli 1893 in Chicago vor der American Historical Association).

 

[14] Vgl. Theodor W. Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt am Main. Suhrkamp 1964, S. 21.

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