Prof. Dr. Horst-Jürgen Gerigk
Prof. Dr. Horst-Jürgen Gerigk

Am 8. Oktober 2017 wurde Prof. Dr. Rolf-Dieter Kluge in Badenweiler mit dem Titel „Ehrengast“ ausgezeichnet. Ein entsprechender Festakt fand im René-Schickele-Saal des Kurhauses statt. Prof Dr. Horst-Jürgen Gerigk (Universität Heidelberg) hat in seiner Laudatio die Verdienste des Slawisten und Kulturwissenschaflers Rolf-Dieter Kluge ausführlich gewürdigt:

 

Horst-Jürgen Gerigk
Laudatio: Prof. Dr. Rolf-Dieter Kluge
Badenweiler 2017

 

Meine Damen und Herren, lieber Rolf-Dieter, liebe Frau Kluge:

 

Vorweg sei festgestellt: Rolf-Dieter Kluge versteht es, mit seinen Monografien und Aufsätzen über die russischen Klassiker den Leser zu begeistern. Das heißt: wer etwas von Rolf-Dieter Kluge liest, möchte unbedingt die Werke des Schriftstellers kennenlernen, von denen die Rede ist – und das durch eigene Lektüre, falls das noch nicht geschehen ist.
Denn: Behandelt werden von Rolf-Dieter Kluge jeweils ausführlich: Zeitgeist, Biografie und literarische Werke. Also: kulturgeschichtliche Voraussetzungen, Leben des Schriftstellers sowie Inhalt und Erzähltechnik der einzelnen Werke. Es spricht also immer der Historiker, der Psychologe und der Literaturwissenschaftler zu uns. Und das Resultat kann sich sehen lassen, denn es wurde nicht nur für den Slawisten entworfen, sondern immer auch für ein breites Publikum, das sich beim Fachmann informieren möchte. Und dafür bietet die russische Literatur im Rahmen der Weltliteratur, wie wir alle wissen, vielerlei Anreize. Thomas Mann spricht sogar von der „heiligen russischen Literatur“, während Turgenjew meint, Dostojewskij sei der russische Marquis de Sade, der seine Leser durch gezielte Grausamkeiten zu befriedigen suche.
Statt einer Literaturgeschichte liefert uns Rolf-Dieter Kluge Einzelporträts der russischen Klassiker, sei es in Sammelbänden oder in Monografien: Puschkin, Dostojewskij, Turgenjew, Tschechow und Block werden profiliert vor Augen geführt – oder auch eine Erörterung zur russischen Literatur des 20. Jahrhunderts unter dem Titel: „Vom kritischen zum sozialistischen Realismus“ – mit dem Untertitel: „Studien zur literarischen Tradition in Rußland: 1880 bis 1925“. Darin finden wir jeweils Ausführliches, treffend und präzise, über Korolenko, Tschechow, Andrejew, Bunin, Serafimowitsch, Gorkij, Plechanow und Lenin. 
Über meine eigene Erfahrung mit einem Text von Rolf-Dieter Kluge möchte ich Folgendes berichten.Seit meiner Dissertation über Dostojewskijs Roman „Der Jüngling“ (Podrostok), die ich 1963 in Heidelberg bei Dmitrij Tschizewskij geschrieben habe, hatte ich mich intensiv immer wieder mit Dostojewskij beschäftigt, was dazu führte, dass ich 1971 in Bad Ems die Internationale Dostojewskij-Gesellschaft mitbegründet habe und auch bei der Gründung der Deutschen Dostojewskij-Gesellschaft 1990 auf Schloß Gottorf in Schleswig mitgewirkt habe. Im Jahre 1992 aber stieß ich plötzlich auf Rolf-Dieter Kluges Monografie „Ivan S. Turgenev. Dichtung zwischen Hoffnung und Entsagung“, die ich spontan ganz durchgelesen habe; und mir wurde plötzlich klar, dass Turgenjew der Gegenspieler Dostojewskijs ist: ohne einen Sinn für religiöse Bindung und deshalb ohne Vorurteile gegen Polen, Juden und Türken, wie das für Dostojewskijs fünf große Romane typisch ist. Turgenjew war ein russischer Europäer, der an Westeuropa glaubte. Und in diesem Sinne schrieb ich meine eigene Turgenjew-Monografie, die 2015 erschienen ist – unter dem Titel: „Turgenjew. Eine Einführung für den Leser von heute“.
Inzwischen war in Baden-Baden eine Deutsche Turgenjew-Gesellschaft begründet worden, die 2012 ihr 20jähriges Bestehen feiern konnte, aus dessen Anlass ich dort einen Vortrag hielt über „Turgenjew heute. Seine Bedeutung für das literarische Bewusstsein unserer Gegenwart“.
Kurz gesagt: Wir hatten jetzt also eine „Deutsche Dostojewskij-Gesellschaft“ und eine „Deutsche Turgenjew-Gesellschaft“ – und da hatte Rolf-Dieter Kluge die einleuchtende und begrüßenswerte Idee, eine „Deutsche Tschechow-Gesellschaft“ zu gründen. Natürlich in Badenweiler, denn hier war ja Anton Tschechow 1904 im Alter von 44 Jahren gestorben. Ja, unter der Leitung von Rolf-Dieter Kluge hatten in Badenweiler bereits drei Internationale Tschechow-Symposien stattgefunden: 1985, 1994 und 2004. Auch lag bereits 2002 eine Festschrift zu Rolf-Dieter Kluges 65. Geburtstag vor, die auf die ersten zwei dieser Symposien Bezug nimmt. Und bereits 1995 war Rolf-Dieter Kluges Aufsatz „Anton Tschechow in Badenweiler“ erschienen im Sammelband „Anton Pawlowitsch Tschechow in Jalta und Deutschland“ (herausgegeben vom Kulturamt der Stadt Baden-Baden; S. 56-69).
Nun also Gründung der „Deutschen Tschechow-Gesellschaft“ am 16. Juli 2009 in Badenweiler. Das „Journal Badenweiler“ bringt zu diesem Ereignis eine „Sonderausgabe“ von insgesamt 36 Seiten heraus: mit der „Satzung der Deutschen Tschechow-Gesellschaft“ (deutsch und russisch) sowie einem ausführlichen Bericht „Gründung der Deutschen Tschechow-Gesellschaft mit Bravour vollzogen“ und einer Einführung mit dem programmatischen Titel: „Die Deutsche Tschechow-Gesellschaft – eine Kulturinitiative mit europäischer Zukunft“, verfasst von Hern Bürgermeister Karl-Eugen Engler und Heinz Setzer, Leiter des Tschechow-Museums. Und so ist es tatsächlich: Rolf-Dieter Kluge hat mit dieser Gründung eine „Kulturinitiative mit europäischer Zukunft“ gestartet, zu der sogar im Namen des russischen Präsidenten Vladimir Putin die Puschkin-Medaille Herrn Bürgermeister Karl-Eugen Engler und Museumsleiter Heinz Setzer überreicht wurde: vom russischen Generalkonsul Fjodor Khorokhordin.
Zu Tschechow ist zu sagen, dass er nach den russischen Klassikern Dostojewskij und Tolstoj das „Portal der Moderne“ bildet. Mit seinen 625 Erzählungen und 16 Bühnenstücken kommt ein völlig neuer Ton in die russische Literatur. Der „empirische Mensch“, der im Futteral seiner Gewohnheiten unermüdlich selbstbezogen tätig ist, betritt jetzt die Bühne und löst den „intelligiblen Charakter“ ab, der sich zwischen Gut und Böse zu entscheiden hat. Von Dostojewskij hielt Tschechow wenig oder nichts, schrieb sogar eine Parodie auf die Eingangsszene im Roman „Der Idiot“, wo sich Myschkin und Rogoshin in einem Eisenbahnabteil kennenlernen. Und Tolstojs Moralismus war ihm zuwider. Als er „Anna Karenina“ gelesen hatte, schrieb er empört seine „Dame mit dem Hündchen“, die ja auch Anna heißt und Ehebruch begeht, aber trotzdem das Glück der wechselnden Hotelzimmer auf ihre Weise genießt. Von Selbstmord unter einem Güterzug keine Spur!
Ohne Tschechows Komödie „Die Möwe“ wären weder Samuel Beckett noch Tennessee Williams möglich gewesen. Ja, Tennessee Williams veröffentlichte seine eigene Fassung der „Möwe“ unter dem Titel „The Notebook of Trigorin“: A free adaptation of Anton Chekhov's „The Sea Gull“ – und nennt das Stück in seinem Vorwort „the first and greatest of modern plays“.
Und Tschechow selbst hat in einem Gespräch mit Iwan Bunin Ende 1895 in Moskau festgestellt (das Bunin in seinen Memoiren festgehalten hat): „Wenn man eine Erzählung geschrieben hat, muß man, wie ich meine, den Anfang und das Ende wegstreichen. Denn hier lügen wir Belletristen am meisten“ (Po-moemu, napisav rasskaz, sleduet vycerkivat' ego nacalo i konec. Tut my, belletristy, bol'se vsego vrem.) Das ist zweifellos das Beste, was sich über den Zusammenhang von Weltsicht und Erzähltechnik Tschechows sagen lässt: eine Begründung des offenen Schlusses, auf dem sein maßgebender Einfluss auf die Literatur des 20. Jahrhunderts beruht. 
Schon jetzt, im Jahre 2017, ist die Stadt Badenweiler mit ihren verschiedenen Veranstaltungen zu Leben und Werk Anton Tschechows, die über das ganze Jahr verteilt stattfinden und jedes Jahr neu geplant und durchgeführt werden (mit dem Tschechow-Museum im Zentrum), nicht nur eine Attraktion im deutschen Sprachraum, sondern längst auch in Russland. Grund für diese Attraktion, die ja auch heute durch die Anwesenheit von Herrn Genralkonsul Alexander Bulay aus Frankfurt bezeugt wird, sind natürlich auch die Zuwendungen der Stadt Badenweiler unter der Ägide von Herrn Bürgermeister Karl-Eugen Engler. Und doch dürfen wir darüber nicht vergessen: all das ist durch die Initiative von Rolf-Dieter Kluge in Gang gesetzt worden, der die Gründung der Deutschen Tschechow-Gesellschaft verwirklicht hat.
Um die Kunst der Interpretation und das ungewöhnlich breite Spektrum der Interessengebiete des Slawisten Rolf-Dieter Kluge konkret vor Augen zu führen, möchte ich nun auf zwei seiner Arbeiten etwas näher eingehen. Es handelt sich um seinen Aufsatz „Die Gestalt Christi in der russischen Literatur der Revolutionszeit“, der 1989 erschienen ist, und um die Monografie „Anton P. Cechov – eine Einführung in Leben und Werk“, die 1995 erschienen ist und 2003 eine zweite Auflage erlebte. Der Aufsatz behandelt natürlich, wie es der Titel vermuten lässt, auch Alexander Blocks berühmte Dichtung „Die Zwölf“ (Dvenadcat), die hier in der ebenso berühmten deutschen Übersetzung von Paul Celan zitiert wird, allerdings mit der Anmerkung: „Die deutsche Übersetzung von Paul Celan ist vom Verfasser geringfügig verändert worden.“ Block gestaltet in seiner 1918 erschienenen Dichtung, dass Christus im Schneesturm und im Dunkel der heraufziehenden Nacht an der Spitze der bewaffneten und kämpfenden russischen Revolutionäre voranschreitet. Die abschließende Strophe des zwölften und letzten Kapitels lautet: 

 

Fester Schritt und schreiten, gehen –
Hungerhund prescht hinterher.
Vorn die Fahne, blutig wehend,
Und unsichtbar – denn es schneit
Einer noch, der ist gefeit,
Sturmfern, sanft, so schreitet er, 
Schneeglanz, perlend, um sich her, 
Rosenweiß umkränzt er ist –
Vorne gehet Jesus Christ.

 

Dieser Schluss hat so manchen Leser vor den Kopf gestoßen. Viele fragten sich: Ich weiß nicht, was soll es bedeuten? - und wandten sich anderen Dingen zu. Was aber hatte Alexander Block damit tatsächlich im Sinn? Rolf-Dieter Kluge erläutert wie folgt:

 

„Jesus Christus schreitet unsichtbar hinter, über und im Schneesturm, wird jedoch von den Kugeln der Rotgardisten nicht getroffen – er wird also vom menschlichen Aufruhr der Revolution nicht erreicht, der elementare Aufruhr – der Schnee –.umhüllt ihn – das signalisiert Übereinstimmung mit den Elementen; sodann: Christus trägt die „blutige“ Fahne der Revolution den zwölf Rotgardisten voran. Die rote Fahne hat sich in Christi Händen in eine „blutige“ Fahne verwandelt. Blut ist das Symbol des Schmerzes und Leidens. Der erste kompositorische Höhepunkt des Poems ist Katjas Tod, ihr vergossenes Blut, und nach diesem Mord bleiben die Zwölf „ohne Kreuz und ohne heiligen Namen“. Wenn nun Christus mit der blutigen Fahne in seinen Händen nach dem Mord an Katja den zwölf Rotarmisten voranschreitet, hebt er diese und die anderen Bluttaten der Revolutionäre auf: im Namen des Zukünftigen rechtfertigt Christus Gewalttaten als notwendiges Leiden beim Zusammenbruch des Alten.(…) Revolution ist Zeitenwende, Bestrafung durch Blutvergießen – das ist nicht der sanfte Heiland der Nächstenliebe, sondern der Weltenrichter, der über die Lebendigen und die Toten zu Gericht sitzt, der Christus der Apokalypse. Auch dies bestätigt ein Detail: Während die übliche russisch-kirchenslavische Schreibweise für Jesus Christus Iisus Christos lautet, verwendet Block die Schreibung der Altgläubigen Isus Christos! Beileibe kein Zufall – wenn Block sonst Christi Namen verwendet, etwa in seinem Dramenentwurf um Christi Leben, bedient er sich immer der korrekten orthodoxen Orthographie, wo er aber den Christus seiner Zwölf zitiert, schreibt er Isus. Der Christus der „Zwölf“ (Dvenadcat) ist also der Christus der russischen Altgläubigen, die ein ausgesprochen apokalyptisches Christusverständnis haben, das ist sogar zum zentralen Thema des Raskol geworden. Block hat sich – wie viele seiner Zeitgenossen – für die Altgläubigen interessiert, hatte zu ihnen Kontakte unterhalten, hat in verschiedenen literarischen Figuren versucht, altgläubige, apokalyptische Erlösungserwartung, die christliche Sehnsucht nach der Ankunft des Messias zu gestalten: sein Christusbild ist also der Ausdruck einer eschatologischen Erwartung. (…) Aber Blocks Christus bleibt dennoch den unmittelbaren revolutionären Ereignissern im Poem fern, greift nicht ins Geschehen ein, wie das im Verständnis mancher altgläubiger Sekten der wiederkehrende Christus in der Inkarnation ihrer Führer tat oder tun sollte. Das passive Auftreten Christi in Blocks Poem verbindet sich mit dem russisch-orthodoxen Bild vom Heiland. Die Theologie der orthodoxen Kirche ist zwar auch in ungewöhnlichem Maße christozentrisch und eschatologisch orientiert, jedoch bleibt der Christus der Orthodoxie weltfern, es ist der Weltenrichter, der Pankrator, dessen eschatologischen Charakter der Kultus konserviert. (…) Besonderer Erwähnung bedarf in diesem Zusammenhang das Werk des Philosophen und Dichters Wladimir Solowjow, dem sich Block zeitlebens verbunden fühlte, wenn auch in seinen reifen Jahren nicht ohne Vorbehalte gegenüber der positiven Heilserwartung, gegenüber der Reinheit des Gottmenschentums der Zukunft. Noch 1920 verstand Block die apokalyptischen Erwartungen Solowjows als Kunde des Zukünftigen, war sich allerdings im unklaren, ob sie in den konkreten gesellschaftlich-politischen Vorgängen nicht mehr als nur historische, museale Bedeutung haben könnten! Der strafende Weltenrichter Christus, der russische endzeitliche Messias der Altgläubigen, der weltenferne Pankrator der russisch-orthodoxen Kirche –. alle diese Züge vereinigt Blocks Christus der „Zwölf“ (Dvenadcat) – aber noch immer ist er nicht zureichend erfaßt. Denn der revolutionäre Weltenbrand, in dem er erscheint, ist ein elementar-kosmischer Aufruhr, ein Aufstand der Elemente, eine Götterdämmerung, die den geordneten christlichen Schöpfungsmythos übersteigt: hier entgrenzen mythisch-unendliche Urmächte, deren formlose ungeheure Dimensionen sich jeglichem sinnsuchenden Veständnis entziehen. Wir erkennen sie aus Blocks stetem Symbol dafür: dem Schneewirbel und Schneesturm, und in der Sprache seiner Essays nennt er sie das Elementare oder den „Geist der Musik“. Damit ist das Signal gegeben für die letzte Qualität in Blocks Welt- und Christus-Verständnis, nämlich die Anregung der deutschen Philosophie des Irrationalismus und des Lebens, repräsentiert von Schopenhauer, Nietzsche und Richard Wagner. (…) In Wagners Traktat „Die Kunst und die Revolution“, den Block in der Zeit, als er die „Zwölf“ (Dvenadcat) schrieb, übersetzte und für eine russische Ausgabe kommentierte, las er, dass der deutsche Dichter-Komponist dem Christus des Duldens und Leidens seinen Haß erklärte, den Christus der Menschenliebe und ethischen Vollkommenheit indessen zum Leitbild der Zukunft erhob:

 

„Sonderbar ist Wagners Verhältnis zu Christus. Wie kann man ihn hassen und gleichzeitig einen Altar errichten? Wie kann man überhaupt zugleich lieben und hassen?(…) Aber gerade dieser Widerspruch, dieses Gift der Haßliebe, die für den neunmalklugen Spießer unerträglich ist, hat Wagner vor dem Untergang gerettet. Dieses Gift des Widerspruchs, das in allen seinen Werken vergossen ist, ist das Neue, dem die Zukunft gehört. Die neue Zeit ist voller Aufruhr und Unruhe.“

 

schrieb Alexander Block und entnahm Wagner, dass Christus als Leitbild der Zukunft zugleich Symbol der Zeitenwende sein kann, weil in ihm ewige Widersprüchlichkeit, Aufruhr und Unruhe sind; dies sind aber gerade jene elementaren Kräfte, die das Alte vernichten und das Neue emportragen. So evoziert also zuletzt Blocks symbolische Christusgestalt den Entwurf einer freien, seinsenthobenen idealen Lebensmöglichkeit, die weit jenseits jeglicher politischen, ideologischen und religiösen Bezüge liegt, mit Nietzsches Zarathustra korrespondiert und von den kritischen Einwänden Bunins wie auch von den peinlichen Korrekturen Lunatscharskis nicht berührt wird. Aber – auch das sei angemerkt – ein Lebensentwurf, dessen Maximalismus den Menschen weit überfordert“. (Zitat Kluge zu Ende). 

Man darf sagen: Rolf-Dieter Kluge legt nicht nur jedes Wort auf die Goldwaage, sondern, wenn es darauf ankommt, sogar jeden Buchstaben – und das auf dem Hintergrund eines umfassenden kulturgeschichtlichen, biografischen und literarhistorischen sowie poetologischen Wissens. Zentrum aber bleibt dabei immer der anstehende literarische Text und seine Deutung, vom großen Referenzrahmen bis ins kleinste Detail.
Und dies gilt auch für seine Tschechow-Monografie. Was Richard Wagner betrifft, so łiegt zu diesem Thema auch, seit 1996, eine Abhandlung von Rolf- Dieter Kluge vor: „Richard Wagner in Russland: Ein Problemaufriss“ – aber ich möchte mich nicht ablenken lassen. Denn jetzt geht es um die Monografie. Das erste Kapitel darin betrifft „Tschechows Leben: Arzt und Dichter“. Im Vorwort heißt es programmatisch: 

„Tschechow war Zeuge des Bankrotts von Heilslehren und Ideologien mit dem Anspruch auf absolute Geltung. Als Arzt war er mit menschlichem Leiden konfrontiert, auch mit seiner eigenen unheilbaren Krankheit. Als Psychologe verstand er die Isolation des einzelnen in einer Welt ohne Orientierung, in der selbst zwischenmenschliche Kommunikation nicht mehr funktioniert. Dennoch besitzen die einsamen Helden seiner literarischen Werke eine humane Gesinnung, die ihnen gebietet, sich menschlich zu verhalten, nach Mitmenschlichkeit zu streben und die Sehnsucht nach einer besseren Zukunft wachzuhalten. Sie versehen ihre Pflicht, hoffen oder leiden ohne großes Aufsehen und vermitteln die Erfahrung normalen Lebens. 
Weil das kurze Leben Anton Tschechows ohne bedeutende Aktionen oder spektakuläre Konflikte verlief, wird in unserer Einführung zunächst der Versuch unternommen, den Autor als Menschen in seiner Zeit zu charakterisieren. Er war Arzt und Staatsbürger, zwar kein führender, aber ein in seinem bescheidenen Rahmen sehr effektiver Mitgestalter des öffentlichen Lebens; zugleich war er aber auch ein skeptischer Beobachter und Diagnostiker seine Zeit.“

Auf dieser Basis wird dann eine Analyse von Leben und Werk durchgeführt -- und das in sechs Kapiteln mit den Überschriften: 1.) Tschechows Leben: Arzt und Dichter, 2.) Literarische Anfänge: Humoresken, ein Drama, Kurzgeschichten, 3.) Versuche in den großen Prosaformen. Ein neuer Stil entsteht, 4.) Die Insel Sachalin, 5.) Das erzählende Werk, 6.) Das dramatische Werk.
Man sieht: Es werden zunächst die Voraussetzungen geliefert: Zeitgeist und Biografie, aus denen dann das erzählende Werk und das dramtische Werk hervorgegangen sind. Hierzu sogleich die Details. 
Es fällt auf, dass dem Reisebericht Tschechows, „Die Insel Sachalin“, ein ganzes Kapitel gewidmet ist. Und, soweit ich sehe, werden dem Leser in keiner anderen Tschechow-Monografie so viele Informationen über Entstehung, Wirkung und literarische Qualität dieses Reiseberichts geliefert. Arzt und professioneller Schriftsteller sind hier gleichzeitig am Werk. Ja, „Die Insel Sachalin“ enthält im sechsten Kapitel sogar eine vollständige Erzählung des Sträflings Jegor, der – eines Mordes beschuldigt –als Opfer eines Juistizirrtums nach Sachalin verbannt worden ist. 
Wörtlich heißt es: „Tschechow bedient sich des Skaz und lässt Jegor seine Geschichte selbst erzählen, in einer dialektgefärbten Umgangssprache aus eingeschränkter individueller Perspektive. Aber als Zuhörer mischt sich der Autor wiederholt ein und ermahnt Jegor, nicht abzuschweifen und nur das Wesentliche samt seiner Motivation konzentriert mitzuteilen. So bietet sich diese Erzählung auch als authentische Selbstinterpretation von Tschechows Stilwillen an, der wissenschaftlich-objektive, publizistisch-engagierte und individuell-perspektivische Darbietung in einer Synthese zu verschmelzen trachtete.“

Meine Damen und Herren, ich möchte Sie bitten, die soeben von mir zitierte Textstelle auf zweifache Weise wahrzunehmen: einmal als präzise Kennzeichnung einer außergewöhnlichen Erzählung Anton Tschechows und zum anderen als Beispiel für die Fähigkeit Rolf-Dieter Kluges, auch äußerst komplexe Sachverhalte in einfachen Worten allgemein verständlich darzustellen. 
Gekonnt animierend die einleitende Beschreibung des Berichts: „Die Insel Sachalin“: 

„Ein besonders berüchtigter Verbannungsort war die erst 1875 gänzlich an Russland gefallene, im äußersten Osten Sibiriens gelegene Insel Sachalin, die als Inbegriff der strengsten russischen Sträflingskolonien galt. Tschechow hatte sich vorgenommen, die Existenzbedingungen auf dieser gefürchteten Sträflingsinsel zu erforschen. Das war auch als Antwort auf jene Vorwürfe der Kritik gedacht, die ihn als neutralen und weltanschaulich indifferenten Autor ablehnte, weil er sich nicht einer der damals konkurrierenden ideologisch-politischen Richtungen anschloß.“

Wieder verbindet Rolf-Dieter Kluge das Sachliche mit dem Biografischen. Und das gilt auch für seine ausführlichen Darstellungen des erzählenden Werks und des dramatischen Werks.
Von den Erzählungen werden ausführlich erörtert – und das in der chronologischen Reihenfolge des biografischen Zusammenhangs: „Gusev“, „Der Anfall“ (hierzu heißt es: „In der Personalunion von Dichter, Arzt und Psychologe verkörpert Tschechow einen neuen Dichtertypus“). Es folgen: „Eine langweilige Geschichte“, „Krankensaal Nr. 6“, „Der schwarze Mönch“, „Der Mensch im Futteral“, „Das Haus mit dem Halbstock“, „Ionytsch“, „Seelchen“, „Die Dame mit dem Hündchen“, „In der Schlucht“, „Der Bischof“ und „Die Braut“. 
Das sechste und letzte Kapitel behandelt die großen Bühnenstücke Tschechows – im Zentrum.stehen: „Die Möwe“, „Onkel Wanja“, „Drei Schwestern“ und „Der Kirschgarten“.
Besonders hervorgehoben werden die „Drei Schwestern“. Es heißt: 

„Das Drama in vier Akten ,Drei Schwestern' (1901) zeigt die Eigenarten des tschechowschen Theaters am ausgeprägtesten. Das Sujet des Stücks ist noch alltäglicher, belangloser als das der vorangegangenen. Drei Scbwestern leben mit ihrem Bruder in einer entlegenen Provinzstadt.“

Das „zeitliche Empfinden der Schwestern“ sei allein das Warten, Hier verweist Rolf-Dieter Kluge auf Samuel Beckett, der später mit „Warten auf Godot“ weltberühmt wurde. Die gestörte Kommunikation wird betont, wie sie bereits für die Erzählungen Tschechows als typisch herausgestellt wurde. Speziell zu den „Drei Schwestern“ heißt es:

„In diesem Stück ereignet sich ein Höchstmaß an gestörter Kommunikation und verhinderten Beziehungen auf der Bühne. Das wird schon optisch im meist zweigeteilten Bühnenbild erkennbar. Im ersten Akt trennt eine Säulenreihe im Salon des Hauses die drei Schwestern von drei männlichen Personen, deren Gespräche gleichzeitig und scheinbar unverbunden ablaufen, sich bei genauem Hinsehen aber als spöttischer Kommentar zu den Sehnsüchten der Schwestern erweisen.“

Wie wir wissen, war die Premiere der „Möwe“ im Jahre 1895 ein Reinfall. Das Publikum lehnte das Stück ab. Tschechow war verärgert. Der bekannte russische Jurist Anatolij Koni aber, der bei der Premiere mit dabei war, teilte Tschechow seinen absolut positiven Eindruck sofort in einem Brief mit und schrieb:

„Sehr verehrter Anton Pawlowiitsch! (…) Die Möwe ist ein Werk, das aufgrund seiner Absicht, aufgrund der Neuheut seiner Gedanken, aufgrund seiner nachdenklichen Aufmerksamkeit gegenüber den Situationen der alltäglichen Wirklichkeit völlig aus der Reihe fällt. Das Leben selbst ist auf der Bühne zu sehen, mit seinen tragischen Verknüpfungen, dem unbedachten Gerede und den Leiden, allen zugänglich und von kaum jemandem begriffen, in seiner inneren, grausamen Ironie, das Leben so sehr zugänglich und uns so nahe, dass man bisweilen vergißt, im Theater zu sitzen, und meint, an dem vor einem ablaufenden Gespräch selber teilnehmen zu können.“

Das ist zweifellos gut gesehen und gut gesagt, als hätte Rolf-Dieter Kluge selbst gesprochen. Und wir fragen uns: Was ist denn das für ein Prinzip, nach dem Rolf-Dieter Kluge literarische Texte deutet und kommentiert? Es fällt auf: Sein Stil der Interpretation ist frei von allem philosophischen Aufputz und auch von jeglicher formalistischen Terminologie. Er interpretiert - je nach Sachlage im literarischen Text - soziologisch, psychologisch und poetologisch und befolgt dabei die Verständnislenkung des Autors, die auf das natürliche Verstehen des Lesers bezogen bleibt.
Martin Heidegger hat hierzu in seinem Aufsatz „Wissenschaft und Besinnung“ Wesentliches gesagt. Er definiert Wissenschaft als die „Theorie des Wirklichen“ und zeigt, dass die Wissenschaft immer viel später da ist als ihr Gegenstand. Das heißt: die Natur ist früher da als die Physik; der kranke Mensch ist früher da als die medizinische Wissenschaft, die Geschichte früher als die Historie, die Literatur früher als die Philologie. Das bedeutet: Wir haben mit den Gegenständen der Wissenschaften immer schon eine persönliche Erfahrung gemacht, im natürlichen Umgang mit diesen Gegenständen, bevor die zuständige Wissenschaft aufkommt. Jeder weiß, was Natur bedeutet, weil er Regen und Sonne, Frühling und Winter kennt; jeder weiß, was Krankheit ist, weil er selber einmal krank war; jeder weiß, was Geschichte bedeutet, weil jeder ein eigenes Schicksal hat, jeder hat schon als Kind Grimms Märchen zu hören bekommen oder wenig später „Die Schönsten Sagen des klassischen Altertums“ selber gelesen. Natur, Mensch, Geschichte, Sprache gehen den für sie zuständigen Wissenschaften voraus.
Heideggers Pointe besteht nun darin, dass der, wie er sagt, „vorwissenschaftliche“ Umgang mit dem Gegenstand einer Wissenschaft nicht nur kein defizienter Umgang ist, sondern immer auch umfassender als die nachfolgende Wissenschaft. Anders formuliert: Man muss nicht Literaturwissenschaft studiert haben, um Grimms Märchen zu verstehen. Im Gegenteil. Die Literaturwissenschaft hat sich am „vorwissenschaftlichen“, das heißt natürlichen Umgang mit ihrem Gegenstand zu orientieren, um nicht inadäquate Begriffe zu bilden, wie das etwa die Auslegungsmethoden des Marxismus, Freudianismus und Formalismus getan haben, die den vorwissenschaftlichen Umgang mit ihrem Gegenstand im Namen einer vorausgesetzten Ideologie übersprungen haben. 
Was aber hat das alles mit Rolf-Dieter Kluges Interpretationen der Erzählungen und der Dramen Anton Tschechows zu tun? Folgendes: Rolf-Dieter Kluges Auslegungen orientieren sich vorbildlich am natürlichen Verstehen literarischer Texte, indem sie die vom Autor ins Werk gesetzte Verständnislenkung nachvollziehen, ohne auf eine unzuständige Wissenschaft zu rekurrieren. Seine Auslegungen sind deshalb allgemein verständlich und textadäquat: ohne vorausgesetzte Terminologie. Fazit: Seine Tschechow-Monografie ist ein Meisterwerk an Aufbau und Substanz, hervorgegangen aus der Einfühlung in die Eigenart des künstlerischen Textes, der nichts anderes zum Ausdruck bringt als die vom Autor gestaltete Sache. 
Zum Schluss möchte ich noch mit allem Nachdruck darauf hinweisen, dass die Interessenahme Rolf-Dieter Kluges auch die polnische Kultur zentral mit einbezieht. Es ist deshalb kein Zufall, dass er in Warschau von 2002 bis 2012 als akademischer Lehrer tätig war und dort den Lehrstuhl für Russische Literatur und Komparatistik vertreten hat. Und der von ihm herausgegebene Sammelband mit 14 Beiträgen über den größten polnischen Dichter, „Adam Mickiewicz“, unter dem Titel „Von Polen, Poesie und Politik“, erschienen 1999 im Attempto-Verlag, Tübingen, ist für die deutsche Slawistik ein wahres Geschenk. 
Außerdem aber ist hervorzuheben, dass Rolf-Dieter Kluge seit 1987 Honorarprofessor der staatlichen Hejlongjiang-Universität Harbin (Volksrepublik China) ist und seit 1995 Honorarprofessor der staatlichen Lomonosow-Universität Moskau. Des weiteren sei vermerkt: seit 1987 Mitglied der Serbischen Akademie der Wissenschaften in Belgrad; 1997: Bundesverdienstkreuz I. Klasse - und 2002: Puschkin-Medaille der Russischen Föderation. Man sieht: bis in den Ruhestand hinein hagelt es Erfolge und Anerkennung. 
Damit bin ich am Ende meiner Laudatio angelangt und wünsche meinem Kollegen und Freund Rolf-Dieter Kluge auch weiterhin alles Gute und noch viele Jahre kreativer Tätigkeit.

 

Horst-Jürgen Gerigk (Heidelberg), 
8. Oktober 2017

Pressemitteilung; erschienen im „Journal Badenweiler“ (2017)

 

Heinz Setzer:


„Deutschlands Tschechow-Hauptstadt“ Badenweiler feiert seinen neuen Ehrengast


Der Titel „Badenweiler Ehrengast“ wurde in diesem Jahr 2017 mit Prof. Dr. Rolf-Dieter Kluge einer Persönlichkeit zuteil, die über fast ein halbes Jahrhundert das literaturwissenschaftliche, und da vor allem an vorderster Stelle das deutsch-russische Profil des Heilbades geprägt hat. 
Es waren stets klingende Namen wie Wolfgang Rihm, Peter Wapnewski, Johannes Rau, Pierre Boulez oder Nike Wagner, die seit 2002 die Ehrengastliste zieren. Doch erstmals hat die „Tschechow-Hauptstadt Deutschlands“, - ein Etikett, das Generalkonsul Alexander Bulay bei seinem Grußwort später prägte - einen international renommierten Vertreter der Slawistik geehrt. Dabei ist Kluge nicht nur in der ostslawischen, vor allem der russischen, sondern auch in der west- und südslawischen Literatur- und Kulturwissenschaft zuhause, zudem umfasst sein universitärer Werdegang auch Geschichte, Germanistik und Philosophie.


Ein symbolisch-musikalischer Repertoire-Reigen 


Insofern war es auch eine höchst geglückte symbolische Werkauswahl, die der Musikwissenschaftler und Leiter der Musikakademie Dettendorf, Dietmar Kluge, der Sohn des Geehrten, bei seiner prächtigen musikalischen „Umspielung“ des Abends vortrug: eine „Weltreise“ mit Stücken von Edward Grieg über Frédéric Chopin, Isaac Albeniz, Aram Chatchaturjan bis Leonard Bernstein.


Das Begrüßungsritual


Angesichts der jahrelangen und vielfältigen Verdienste Kluges erklärte der Geschäftsführer der Badenweiler Thermen und Touristik GmbH (BTT) Alexander Horr bei der Begrüßung im René-Schickele-Saal, dass man sich mit „Hochachtung und Respekt vor dem neuen Ehrengast verneige“, der sich um Badenweiler verdient gemacht habe. Als weitere auswärtige Gäste begrüßte Horr namentlich: den Laudator des Abends, den Slawisten, Philosophen und Anglisten Prof. Dr. Horst-Jürgen Gerigk von der Universität Heidelberg, der als Mitglied des Wissenschaftsforums dieser Uni, als Ehrenpräsident der Turgenev-Gesellschaft Deutschland, Gründungsmitglied der Internationalen wie der Deutschen Dostojewski-Gesellschaft und Kuratoriumsmitglied der Deutschen Tschechow-Gesellschaft weltweit Ansehen genießt. Mit Generalkonsul Alexander Bulay aus Frankfurt sowie mit Botschaftsrat und Kulturattaché der Russischen Föderation, Oleg Ksenofontov aus Berlin, konnte Horr zwei hochrangige Vertreter Russlands willkommen heißen. Der Vorstand und viele Vertreter des Kuratoriums der Deutschen Tschechow-Gesellschaft, die Vizepräsidentin der Turgenev-Gesellschaft in Baden-Baden, Altbürgermeister Dr. Rudolf Bauert und viele Vertreter von Rat und Gemeinde waren anwesend, auch wenn aus Zeitgründen auf namentliche Nennung verzichtet werden musste.


Komplexes wird Klarheit - die Laudatio Prof. Gerigks


Gerigks Festrede auf Rolf-Dieter Kluge wurde ein intellektuelles Highlight, gelang es ihm doch, alle Register einer fachlichen wie persönlichen Würdigung zu ziehen und dabei anhand exemplarischer Betrachtungen den tiefgreifenden kultur- und geisteswissenschaftlichen Charakter von Kluges universitärer Arbeit vorzustellen. Kluge, so Gerigk, sei nie nur reiner Literaturwissenschaftler gewesen, sondern immer auch Historiker und Psychologe, dessen Vorträge wie schriftliche Arbeiten nie nur Fachkollegen, sondern stets auch ein breiteres Publikum erreichen sollten, das sich beim Fachmann informieren wolle. Dies zu leisten sei beileibe kein Normalfall in der akademischen Welt, setze es doch die Fähigkeit voraus, komplexe Sachverhalte in verständliche (Sprach)Formen zu kleiden. In einer konzentrierten tour de raison ließ Gerigk die Hauptbereiche Klugescher Forschungen Revue passieren: seine Monografien zu Alexander Puschkin, Fjodor Dostojewski, Iwan Turgenjew, Alexander Blok und Anton Tschechow, bis hin zu seiner umfassenden Arbeit „Vom kritischen zum sozialistischen Realismus“. Gerigk verschwieg auch nicht, dass seine eigene große Turgenev-Monografie von 2015 von der Kluges unmittelbar angestoßen worden war. Ein zentrales Thema wurde Kluges Engagement zum Großkomplex „Tschechow in Badenweiler“. So die drei großen internationalen Tschechow-Symposien (1985, 1994, 2004) im Kurort, die unter Kluges Ägide stattfanden und den Namen des Heilbads global bekannt machten, die Gründung des Literarischen Museums „Tschechow-Salon“ und die Unterstützung der Gründung der Deutschen Tschechow-Gesellschaft 2009, als deren Vorsitzender Kluge seither auch fungiert. Auch die Auszeichnung von Bürgermeister Karl-Eugen Engler und Museumsleiter Heinz Setzer mit der renommierten Puschkin-Medaille sei vor diesem Hintergrund der Kooperation zu sehen. 


Kluges Tschechow Perspektive


Nach den russischen Klassikern Dostojewski und Tolstoj, die jeweils die moralische Entscheidung zwischen Gut und Böse ins Zentrum stellten, bilde Tschechow nach Kluge das „Portal der Moderne“. Der Schriftsteller und Dramatiker habe mit dem „empirischen Menschen“ einen neuen Ton in die Literatur gebracht, Alltagsmenschen statt Gottmenschen seien nun Schreibgegenstand geworden und hätten immensen Einfluss auf die internationale Literatur ausgeübt. Ohne Tschechows Komödie „Die Möwe“ seien weder Samuel Beckett noch Tennessee Williams möglich gewesen. Die Begründung des offenen Endes beim Erzählen als Zusammenhang von neuer Weltsicht und innovativer Erzähltechnik sei einer der maßgeblichen Einflüsse Tschechows auf die Literatur des letzten Jahrhunderts gewesen. 


Aktuelles Poem zum 100. Jahr der Oktoberrevolution


Ein interpretatorischer Höhenflug wurde die exemplarische Vorführung von Kluges geistesgeschichtlicher Interpretationspraxis durch das Revolutionspoem „Die Zwölf“ („Dvenadzat“) des symbolistischen Dichters Alexander Blok, über den Kluge promoviert hatte. Natürlich war dieses Thema anlässlich des gerade 100- jährigen Jubiläums der bolschewistischen Oktoberrevolution besonders aktuell. Im Epos marschiert eine Schar von zwölf Rotgardisten schießend und mordend, mitten im dichten Schneetreiben, durch Sankt Petersburg, allen voran, unberührt vom Naturchaos, mit blutiger roter Fahne in der Hand, Jesus Christus - Gottes Sohn, der den Mord an einer untreuen Geliebten zu rechtfertigen scheint. Das Poem hatte viele vor den Kopf gestoßen, ja, es tut es noch immer. Gerigk zeigte nun durch Kluges Interpretation Bloks Überzeugung, dass es sich bei der Revolution um eine historische Zeitenwende handele, die Formen der christlichen Apokalypse und der Figur Christi als Pantokrator, als apokalyptischer Weltenrichter, verpflichtet sei. Sogar buchstabengenau ließen sich Spuren zu den Glaubensriten der orthodoxen Altgläubigen verfolgen, welche apokalyptische Züge besessen hätten und mit denen sich Blok besonders beschäftigt habe. Doch auch das sei nicht die letzte, tiefste Schicht der Dichtung: diese nähre sich aus den Ideen Friedrich Nietzsches und Richard Wagners, entziehe sich letztlich als kosmisch-elementarer Aufruhr, als Götterdämmerung, jedem sinnsuchenden Verständnis. In Bloks, an Wagner orientierter Essayistik, sei es der„Geist der Musik“, der hier zum Ausdruck komme. 


Königsweg zum Literaturverständnis?


Kluge, so Gerigk, interpretiere je nach Sachlage: soziologisch, psychologisch und poetologisch, wobei er der Verständnislenkung des Autors verpflichtet bleibe. Gerigk verdeutlichte dies mit Heideggers These, dass die Wissenschaft als „Theorie des Wirklichen“ stets später erscheine als ihr Gegenstand, was diesen zur Pointe führte, dass ein „vorwissenschaftlicher“ Umgang mit dem Untersuchungsgegenstand immer auch umfassender sei als die nachfolgende Wissenschaft. Rückgebogen auf Kluge bedeute dies, dass seine Interpretationen textadäquater und verständlicher deswegen seien, weil sie jenseits der Methodenterminologie sich aus Einfühlung in den Text und der auktorialen Verständnislenkung ergäben. Gerigk endete mit einem weiteren wichtigen Aspekt: Kluge habe nie die die Literatur umgebende politische Kultur außer Acht gelassen. Wie sehr diesem europäische Dimensionen seit jeher am Herzen lägen, zeige sich an seiner Berufung zum Ehrenprofessor der Moskauer Staatlichen Lomonossow-Universität, zum Advisory Professor im chinesischen Harbin und zum Mitglied der Serbischen Akademie der Wissenschaften, vor allem aber an einer 10-jährigen Professur für russische Literatur in Warschau – ein deutsch-polnischer Dialog der Extraklasse nach seiner Emeritierung in Tübingen. Dass es bis in den Ruhestand Orden und Auszeichnungen „gehagelt“ habe, war der letzte Aspekt dieser bemerkenswerten Rede.

 

Die Überreichung der Urkunde


Danach dankte Bürgermeister Karl-Eugen Engler dem neuen Ehrengast für das über Jahrzehnte erbrachte Engagement für Badenweiler. Heute sei der Tag des Dankes Badenweilers gekommen, von Herzen für die Verbundenheit Kluges mit Badenweiler überreiche er deshalb die von Engler und Geschäftsführer Horr unterzeichnete Ehrengast-Urkunde, deren Text verlesen wurde. 

 

Text der Ehrenurkunde


„Professor Dr. Rolf-Dieter Kluge hat als Literatur- und Kulturwissenschaftler ein glänzendes Berufsleben durchlaufen, das ihn 1994 bis in die ehrenvollen Aufgaben des Präsidenten des Großen Senats und Vizepräsidenten der Universität Tübingen führte. Seine richtungsweisende Beschäftigung mit den slawischen Sprachen und Literaturen ließ ihn in einem schwierigen politischen Umfeld weltweite Kontakte, verstärkt mit Russland und China, knüpfen. 1997 wurden seine herausragenden Verdienste um die Verständigung und den Dialog mit den slawischen Nachbarn durch die Verleihung des Verdienstkreuzes 1. Klasse der Bundesrepublik Deutschland gewürdigt.
Als Prof. Kluge im Jahre 1978 mit der wissenschaftlichen Erforschung des Tschechow-Archivs der Gemeinde Badenweiler begann, weckte er gleichzeitig das Interesse der internationalen Literaturwissenschaft für diesen Ort. Durch Prof. Kluge wurde Badenweiler verstärkt zur Stätte für grenzüberschreitende Begegnungen im Namen des russischen Schriftstellers und Dramatikers Anton Pawlowitsch Tschechow und zu einem Zentrum der deutschen Forschung für diesen Autor der Weltliteratur. Drei bedeutende Symposien fanden unter seiner Leitung 1985, 1994 und 2004 mit großer internationaler Beteiligung in Badenweiler statt. Durch seine Vermittlung wurde 1992 als Geschenk von Tschechow-Verehrern der fernöstlichen Insel Sachalin eine neue Bronzebüste des Schriftstellers an der Stelle des alten, 1918 zerstörten ersten Denkmals wieder errichtet. Im Juli 1998 konnte nach wissenschaftlicher Vorarbeit durch einen seiner Mitarbeiter an der Universität Tübingen das Literarische Museum "Tschechow-Salon" eröffnet werden. 2009 wurde die Deutsche Tschechow-Gesellschaft mit Prof. Kluge als Vorsitzenden in Badenweiler gegründet und damit ein wichtiges Forum für die deutsch-russischen Kulturkontakte geschaffen. 


Prof. Kluge war und ist eine großartige, warmherzige und kreative Persönlichkeit, ein Ideengeber, Moderator und Motivator für das kulturelle Leben in Badenweiler.
In Anerkennung und Dankbarkeit für seine Verdienste als
„Kulturbotschafter“ Badenweilers verleihen wir
Professor Dr. Rolf-Dieter Kluge
die Auszeichnung
„Ehrengast des Jahres 2017“
Badenweiler, den 8. Oktober 2017

 

Botschaftsrat und Kulturattaché Oleg Ksenofontov, Berlin
O. Ksenofontov verlas daraufhin als Vertreter des Botschafters der Russischen Föderation, Alexander Grinin, dessen herzlichen Glückwünsche. Aufgrund Kluges Wirken, das der Gemeinde wie der Dt. Tschechow-Gesellschaft sei Badenweiler als „Tschechows zweite Heimat“ in Russland zum „stehenden Begriff“ geworden. All dies sei ein großartiger Beitrag zu den deutsch-russischen Beziehungen, dem Geehrten wünsche er noch viele Jahre fruchtbarer Tätigkeit. Danach übergab er im Auftrag von Badenweilers Kulturpartnerstadt Taganrog, die vor kurzem mit einer Delegation in Kiel gewesen sei, eine kostbare Tschechow-Buchausgabe an Kluge.


Generalkonsul Alexander Bulay, Frankfurt


A. Bulay betonte, dass er für zwei der wichtigsten Bundesländer, Hessen und Baden-Württemberg, zuständig sei, welche beide immenses Interesse an Russland besäßen. Er bedanke sich für die hohe Anerkennung, ja Liebe, die die russische Literatur hier genieße. Wissenschaft und Literatur sorgten gemeinsam für gegenseitiges Vertrauen, wobei Badenweiler als „deutsche Tschechow-Hauptstadt“ besondere Bedeutung für Russland besäße. Das Engagement für Tschechow müsse man als herausragendes Zeichen der kulturellen gemeinsamen Entwicklung beider Länder und Völker begreifen. Deswegen sei auch der Ehrengasttitel an Prof. Kluge für Russland von besonderer Bedeutung, würde doch damit erstmals eine Persönlichkeit ausgezeichnet, die sich bleibende Verdienste für die russische Kultur und für den deutsch-russischen Dialog erworben habe.


Kluges Danksagung und Anspruch


Mit einer prächtigen Anekdote antwortete der so vielfach Geehrte: Als er das erste Mal Ende der 1970er Jahren nach Badenweiler gekommen sei, den idyllischen Kurpark, die römische Badruine, die prächtige Landschaftsblicke genossen habe, habe er auch die Tafel am Sterbehaus Tschechows gesehen, privat 1908 angebracht vom damaligen Hotelier Gloeser, und habe den Gedenkstein Tschechows bewundert und dann in der antiken Badruine von der römischen Brosche mit dem Spruch „Si me amas“ (Wenn du mich nur liebtest) erfahren und spontan für sich erwidert: I te amo!, Ich liebe dich Badenweiler. Dies sei so geblieben. Doch all die Ehren, die er nun empfange, verdienten ebenso seine Mitstreiter: Christa Marx, Heide Willich-Lederbogen, Regine Nohejl und Heinz Setzer Ohne diese „Kompanie“ sei nie etwas möglich gewesen, die Ehre gebühre ihnen als aktive Mitwirkende ebenso. Für ihn sei es wichtig, auch hier seine Sorgen wegen der aktuellen politischen Spannungen äußern zu können. Es sei Torheit, westliche Werte gegen russische ausspielen zu wollen und Russland von Europa abzutrennen. Europa ohne Russland wäre ein Torso. Seine Überzeugung, die er stets vertreten habe, sei es, unbeschadet jeweiliger politischer Differenzen, mit Kultur und Literatur eine Brücke der Verständigung zwischen den Völkern zu errichten. Spontaner Beifall des Publikums war gewiss der beste Lohn für dieses Statement.
Das letzte Wort gehörte Museumsleiter Heinz Setzer, der die Anwesenden an das nun verfügbare Erinnerungs- und Anekdotenbuch „Ein Leben für den deutsch-slawischen Dialog. R. D. Kluge zum 80. Geburtstag“ erinnerte, das, nachdem es bei der Geburtstagsfeier noch nicht verfügbar gewesen sei, nun im Foyer erworben werden könne

Badenweiler Ehrengast 2017 Rolf-Dieter Kluge Badenweiler Ehrengast 2017 Rolf-Dieter Kluge (Foto: Heinz Setzer)

Badische Zeitung, Freiburg, 10. Oktober 2017

 

Ein Freund slawischer Kultur

 

Gemeinde Badenweiler ernennt Literatur- und Kulturwissenschaftler Rolf-Dieter Kluge zum Ehrengast.

 

BADENWEILER. Badenweiler ist heute international als Tschechow-Zentrum im Westen anerkannt. Dies ist maßgeblich dem Engagement von Rolf-Dieter Kluge zu verdanken. Hierfür ernannte die Gemeinde Badenweiler den renommierten Literatur- und Kulturwissenschaftler am vergangenen Sonntag zum Badenweiler Ehrengast.

 

Zum 15. Mal wurde damit der Titel Badenweiler Ehrengast an eine herausragende Persönlichkeiten mit einer besonderen Verbundenheit zu Badenweiler verliehen. Rolf-Dieter Kluge, Emeritus der Universitäten Tübingen und Warschau und Ehrenprofessor der Staatlichen Lomonossow-Universität Moskau, prägt seit 1978 die literarischen Kontakte des Heilbads nach Osteuropa, vor allem nach Russland, in entscheidender Weise mit. Sein jahrzehntelanges Wirken schuf eine besonders fruchtbare Epoche für die Tschechow-Forschung. Der russische Literat Anton Pawlowitsch Tschechow verbrachte die letzten Wochen seines Lebens in Badenweiler, wo er 1904 seinem langjährigen Tuberkulose-Leiden erlag.

 

Zum Festakt im Kursaal versammelten sich Kluges Weggefährten und Familie. Zu ihnen gehörte der Pianist und Musikwissenschaftler Dietmar Kluge, der die Gäste mit virtuosem Spiel und Werken von Grieg über Chopin bis Bernstein durch Europa führte.

 

Für Deutschland hielt Bürgermeister Karl-Eugen Engler das Grußwort, für die Russische Föderation sprachen Oleg Ksenofontov, Botschaftsrat der Russischen Föderation und Leiter des Referats für Kulturfragen, sowie Alexander Bulay, Generalkonsul für den Konsularbezirk Hessen und Baden-Württemberg. Es freue ihn sehr, so Bulay, dass in der "deutschen Tschechow-Stadt" Badenweiler erstmals der Titel des Ehrengastes an eine Persönlichkeit gehe, die der slawischen Kultur besonders verbunden sei. 

 

"Rolf-Dieter Kluge versteht es, mit seinen Monografien und Aufsätzen über die russischen Klassiker den Leser zu begeistern", befand Laudator Professor Horst-Jürgen Gerigk, Emeritus des Slavischen Seminars der Universität Heidelberg und Ehrenpräsident der Turgenev-Gesellschaft Deutschland. Kluge fand bescheiden: "Die Ehrung darf an meiner Person allein nicht hängen bleiben." Er sehe sich nur als Ideengeber und Anreger. Ohne Mitwirkung der Gemeinde und seiner Freunde, insbesondere Heinz Setzer, wäre all das Erreichte nicht möglich gewesen. Tosender Beifall folgte auf Kluges Schlusswort: "Europa ohne Russland ist ein Torso."

 

Rolf-Dieter Kluge

Professor Rolf-Dieter Kluge, geboren 1937, begann 1978 mit der wissenschaftlichen Erforschung des Tschechow-Archivs der Gemeinde und weckte damit das Interesse der internationalen Literaturwissenschaft für Badenweiler. Unter Kluges Leitung fanden 1985, 1994 und 2004 drei Symposien mit großer internationaler Beteiligung in Badenweiler statt - die Vernetzung eines weltweiten literaturwissenschaftlichen Zirkels mit Tschechow-Interessierten an Universitäten, Akademien, Museen, Theatern und Verlagen hatte begonnen. Kluges Kontakte zu russischen akademischen Institutionen ermöglichte 1992 die Wiedererrichtung des 1918 zerstörten Tschechow-Denkmals in Badenweiler. Er wurde Gründungsvorsitzender der 2009 ins Leben gerufenen Deutschen Tschechow-Gesellschaft in Badenweiler und hatte einen großen Anteil an der Gründung des ersten Literarischen Museums 1998 sowie des neuen Literarischen Museums Tschechow-Salon 2015. Zu Kluges Engagement für die Literaturgeschichte des Ortes gehören zahlreiche Vorträge beim Internationalen Literaturforum in Badenweiler. Für sein kulturelles Engagement erhielt Kluge Auszeichnungen wie das Verdienstkreuz 1. Klasse der Bundesrepublik Deutschland, die Puschkin-Medaille der Russischen Föderation, die Titel Ehrenprofessor der Staatlichen Moskauer Lomonossow-Universität und Advisory Professor der Heilongjiang Universität in Harbin/China. 

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Festrede auf Rolf-Dieter Kluge

 

Am 8. Oktober 2017 wurde Prof. Dr. Rolf-Dieter Kluge in Badenweiler mit dem Titel „Ehrengast“ ausgezeichnet.

 

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Zur Darstellung der Epilepsie in Dostojewskijs großen Romanen: Fürst Myschkin, Kirillow und Smerdjakow

 

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