Prof. Dr. Horst-Jürgen Gerigk
Prof. Dr. Horst-Jürgen Gerigk

Rezensionen

Horst-Jürgen Gerigk

 

Lesendes Bewusstsein. Untersuchungen zur philosophischen Grundlage der Literaturwissenschaft.

 

Berlin/Boston: Walter de Gruyter 2016 (= Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Neue Folge. Band 42). XV, 214 Seiten, 99,95 Euro.

Wespennest, Wien, Ausgabe 172 (Mai 2017)

 

Kirstin Breitenfellner


«Der Dichter ist der Hermeneut, nicht wir, die Leser»

 

Horst-Jürgen Gerigk: Lesendes Bewusstsein. Untersuchungen zur philosophischen Grundlage der Literaturwissenschaft. Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Band 42. Berlin: Walter de Gruyter 2016

 

«Es wäre um die Weltliteratur schlecht bestellt, wenn sie, um ihre Wirkung tun zu können, auf eine vorausgehende Interpretation durch die Literaturwissenschaft angewiesen wäre.»


In seinem neuen Buch unter dem Titel Lesendes Bewusstsein. Untersuchungen zur philosophischen Grundlage der Literaturwissenschaft legt Horst-Jürgen Gerigk so etwas wie die Quintessenz seines Denkens über die Natur des literarischen Textes und die Möglichkeiten seines Verstehens vor, gegliedert in elf Essays und drei exemplarische Werkanalysen.


Um literarische Texte zu verstehen, brauche es eigentlich keine Literaturwissenschaft, lautet eine seiner Grundthesen,denn der adäquate Umgang mit Dichtung sei eine Naturanlage des Menschen. Dennoch sei das menschliche Bewusstsein nicht dagegen gefeit, «sich <wissenschaftlich> gegen die eigene Erfahrung zu sperren. Die theoretische Selbstverkennung, das Zuwiderhandeln gegen die Naturanlage des Verstehens, gehört offensichtlich ebenfalls zu den Wesenszügen des Menschen.»


Um keine falschen Erwartungshaltungen zu wecken, sei hier schon angemerkt: Das titelgebende «lesende Bewusstsein» bedeutet keine Rezeptionspsychologie, die, wie die Schaffenspsychologie, ausdrücklich nicht zu den Forschungsthemen des emeritierten Heidelberger Professors für Slawistik und Vergleichende Literaturwissenschaft gehört, der zuletzt Monografien über Alexander Puschkin, Lew Tolstoi, Fjodor Dostojewski und Iwan Turgenjew vorlegte (Puschkin und die Welt unserer Träume. Zwölf Essays zur russischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, 2011; Dichterprofile. Tolstoj. Gottfried Benn. Nabokov, 2012; Dostojewskis Entwicklung als Schriftsteller. Vom «Toten Haus» zu den«Brüdern Karamasow», 2013; Turgenjew. Eine Einführung für den Leser von heute, 2015).


Als Literaturwissenschaft «im strengeren Sinne» lässt Gerigk nur die Poetologie gelten, die sich mit dem Werk beschäftigt - und nicht mit dem Autor oder dem Leser. «Lesendes Bewusstsein» definiert er als «Organ für die Rezeption literarischer Texte».«Das lesende Bewusstsein wird von einem literarischen Text auf ganz bestimmte Weise ausgerichtet und abgerichtet. <Ausgerichtet>, weil ein literarischer Text von sich aus festlegt, was beachtet werden muss, um richtig zu verstehen. <Abgerichtet>, weil ein literarischer Text von sich aus festlegt, welche Fragen nicht an ihn gestellt werden dürfen.»


Daran halten sich – Stichwort «Zuwiderhandeln gegen die Naturanlage des Verstehens» - freilich nicht alle Schulen der Literaturinterpretation. Es begann mit Nietzsche, dem Erfinder des «Hinterfragens», der Kunst, aus einem Text das herauszulesen, was nicht gesagt sein wollte. Wenn Gerigk das Kunstwerk gegen jene Schulen verteidigt, die es für psychologische oder soziologische Zwecke in den Dienst nehmen wollen, kann er sich sogar einer gewissen Polemik nicht erwehren. Und bezeichnet Freudianismus, Marxismus, Strukturalismus, Intertextualität und Dekonstruktivismus als «Verwertungsgesellschaften des Zeitgeistes», die sich, obwohl «in genuin emanzipatorischer Absicht» gegründet, schnell zu «Zitierkartellen gegen Andersdenkende» entwickelt hätten.


In Abgrenzung gegen diese beharrt Gerigk auf der Eigenständigkeit, aber auch der Verständlichkeit des literarischen Kunstwerks, die er sogar «absolut» nennt. Damit stellt er sich auch gegen seinen akademischen Lehrer Hans-Georg Gadamer, der den subjektiven Anteil der Hermeneutik in den Vordergrund stellt. Das heißt freilich nicht, dass Gerigk nicht zugesteht, dass jeder «seinen» Dostojewski liest. Aber sozusagen nur «zusätzlich» zu den Lesarten, die der Text seiner Meinung nach allen Lesern gleichermaßen und verbindlich anbietet.


Um diesen Ansatz zu verdeutlichen, zieht Gerigk die Lehre vom vierfachen Schriftsinn heran, die auf die Kirchenväter zurückgeht, und unterscheidet den buchstäblichen Sinn («Wir ‚lesen‘, was dasteht, und verstehen, wie der Text es verlangt»), den allegorische Sinn («In einer Dichtung ist alles Metapher»), den tropologischen Sinn (nur er erlaubt die Anwendung des Verstandenen auf mich selbst) und zuletzt den anagogischen Sinn: die poetologische Rekonstruktion oder Einsicht in die Komposition des Ganzen als Kunstwerk: die eigentliche Interpretation.


Literarische Kunstwerke sind nach Gerigk endliche Texte, die eine Welt schaffen und innerhalb dieser festsetzen, was zu gelten hat. Gegen ihre «Daten» kann man deswegen nicht wie bei Zeitungsartikeln oder einer wissenschaftlichen Abhandlungen Einspruch erheben, was Letztere zu potenziell unendlichen Texten macht.


Dichtung definiert Gerigk als bereits verstandene Welt.«Der Dichter ist der Hermeneut, nicht wir, die Leser. Wir haben zu verstehen, was uns der Dichter zu verstehen gibt.»Mit Heideggers Begriff der Sorge beziehungsweise Angst erklärt er den Hang des menschlichen Bewusstseins, alles, auch Unverständliches, zu interpretieren.«Angst ist der Motor für die Unterscheidung zwischen dem Zuträglichen und Abträglichen. In der Angst gründen Genese und Grenzen der<Lesbarkeit>.»


Dichtung bezeugt sich selbst, sie ist Text ohne Sprecher und führt,«poetologisch verstanden, die Genese der Lesbarkeit von Welt eigens vor Augen: ohne Grenzen, das heißt ohne unverständlichen Rest. Sie kann zwar Unverständliches als solches eigens darstellen, aber niemals als solche unverständlich sein.» Gerigk nennt Franz Kafkas Romane Das Schloss und Der Prozess als Beispiele einer «Verständlichkeit <ex negativo>, denn zum Ausdruck gebracht wird durch Handlung und Charaktere die Unlesbarkeit der Welt: dies aber so verbindlich, wie es nur Dichtung kann.»


Sein Begriffsinstrumentarium entlehnt Gerigk eher der Philosophie denn der Literaturwissenschaft. Mit Immanuel Kant erklärt er ästhetische Ideen und freie Schönheit als freies Spiel der Erkenntniskräfte, mit Karl Jaspers' Begriffen <Gehäuse> und <Grenzsituation> den Grundkonflikt menschlichen Daseins und deswegen auch der Literatur. Broder Christiansens Philosophie der Kunst von1909 entnimmt er die Begriffe <Dominante>,<Störung> und <Objektsynthese>. Er widmet sich dem Begriff des Kanons und der Frage, ob Kunst überhaupt realistisch sein kann, die er verneint mit dem Hinweis darauf, dass literarische Texte endlich sind und deswegen immer eine Wahl zu treffen haben. Eine überraschende Analyse widmet er den ideologisch bedenklichen Filmen Panzerkreuzer Potemkin (1925) von Sergej Eisenstein und Triumph des Willens (1935) von Leni Riefenstahl, wobei er konstatiert, dass es Riefenstahl gelungen sei, die Wirklichkeit zur Kunst zu «entwirklichen».


«Jede Interpretation eines literarischen Textes beschwört mit der <poetologischen Rekonstruktion> immer auch das Rätsel der Kunst, das nicht zu lösen ist», schreibt Gerigk an einer Stelle und führt die Anwendbarkeit seiner Theorie der Interpretation im achten Essay auch an acht Beispielen von literarischen Texten mit «artifizieller Lästigkeit» vor. Mit seinen abschließenden Werkanalysen von Homers Odyssee, Goethes Werther und Hölderlins «Abendphantasie» beweist er schließlich die Fruchtbarkeit seines Interpretationsinstrumentariums für die verschiedensten Gattungen.

Rhein-Neckar-Zeitung, Heidelberg, 15. Juli 2017

 

Erhellend für alle Leser


Vom Nutzen und Vorteil der Poetologie fürs Leben - Horst-Jürgen Gerigks Essays für bewusste Leser / Von Carina van Hoorn


Die meisten Wissenschaftler publizieren, damit die Fachwelt an ihren Gedanken teilhat. Einige Wissenschaftler aber vermögen ihre Arbeitsergebnisse so darzustellen, dass auch dem Laien wertvolle Einsichten zuteilwerden. Komplexes Fachwissen auf eine verständliche Weise zu vermitteln, ist eine Kunst. Horst-Jürgen Gerigk beherrscht sie. Der bekannte Heidelberger Slavist und Komparatist, der im November sein 80. Lebensjahr vollendet, hat nun eine Studie vorgelegt, die als Quintessenz von 50 Jahren Forschertätigkeit im Dienste der Weltliteratur gelten kann.


Gerigk geht von einer Grundprämisse zum Verständnis literarischer Texte aus: Diese kann man „psychologisch“ oder „poetologisch“ lesen. Die psychologische Lesart obliegt dem naiven Leser. Der liest, weil er auf unterhaltsame Weise über den Tellerrand seines eigenen Lebens hinausschauen will, den literarischen Text wie eine durch die Wirklichkeit selbst vorgeschriebene Schilderung des Lebens. Der andere Leser begreift den Text als komponiertes Gebilde einer künstlerischen Intelligenz, dessen Machart beobachtet und dessen Demonstrationsabsicht erschlossen werden muss, wenn der Text im Verhältnis zum Leben richtig verstanden werden soll.


Der Mehrwert, der sich in Kenntnis der Machart des literarischen Textes einstellt, will zweifellos erarbeitet sein. Nicht jeder wird sie auf sich nehmen, aber, das sei vorweg bemerkt, jeder, der am richtigen Verständnis von Literatur interessiert ist, sollte zur „Lese-Schulung“, wie Gerigk sagt, bereit sein. In elf atemraubenden Essays wird in aller Anschaulichkeit eine Theorie der Literatur vermittelt, die - im wahren Wortsinn - erhellend ist und zum „Lesenden Bewusstsein“ beiträgt. Gerigk ist ein Hardliner unter den Literaturtheoretikern. Sein Credo: „Eine Literaturwissenschaft im strengeren Sinne hat sich ausschließlich der Poetologie zu widmen,“ Konsequenterweise führen Ge-rigks Überlegungen damit zu Kants Vorstellung der vom dargestellten Gegenstand unabhängigen „ästhetischen Idee“, die im Leser das freie Spiel der Erkenntniskräfte in Gang setzt. Die Überzeugung, dass der Grad der Erkenntnis abhängig ist vom Grad der künstlerischen Darstellung situiert das lesende Bewusstsein zwischen zwei Polen.

Der eine ist bestimmt von wiedererkennbaren Wirklichkeitszeichen, die im Roman zu handlungstragenden materiellen Effekten einer Gedankenwelt werden; der andere Pol bezeichnet die Materialität des Erzählens selbst, das Gerigk an Mallarmés Ideal des „Schweigenden Gedichts“ deutlich macht: Dieses offenbart sich iniweißen unbeschrieben Blatt Papier. Das Erkenntnispotential, das Gerigk mit seinen theoretischen Ausführungen dem lesenden Bewusstsein zur Verfügung stellt, wird in drei ausführlichen Werkanalysen exemplifiziert, nämlich an Homers „Odyssee”, Goethes „Werther“ und Hölderlins „Abendphantasie“. Die Auswahl charakterisiert Gerigks Anspruch an sich selbst und an den Leser: Vorzugsweise dem Besten der Weltliteratur sollte man sein Interesse widmen.


Info: Horst-Jürgen Gerigk
„Lesendes Bewusstsein. Untersuchungen zur philosophischen Grundlage der Literaturwissenschaft“. Verlag De Gruyter, Berlin 2017. 330 S., 99,95 Euro.

Landshuter Zeitung, 5. August 2017

Magazin zum Wochenende

 

Ein Recht auf persönliche Lektüre

 

Horst-Jürgen Gerigk überdenkt die philosophischen Grundlagen der Literaturwissenschaft

 

Von Prof. Dr. Günter Fröhlich


Ein tiefer und offenbar unüberbrückbarer Graben klafft zwischen den bluten-gesäumten Vergnügungswegen des Lesers und den felsigen Gebirgstürmen literaturwissenschaftlichen Interpretierens. Während der lesende Laie unbefangen das literarische Werk im psychischen Nachvollzug der Handlung und ihrer Protagonisten genießen möchte, trägt der professionelle Gelehrte komplexe Raster und Modelle an den Text heran, ordnet diesen sprachlich, historisch, hermeneutisch und nach Maßgabe . der von ihm vertretenen Literaturtheorie ein. Die bloße Lektüre scheint diesem ebenso unangemes sen wie jenem die Analyse mit offenbar sach- und werkfernen Methoden.


Für Horst-Jürgen Gerigk steht fest, dass sich jeder Leser am „Posi-turh“ des Textes zu orientieren hat. Dieser sei „,verstandene Welt', die eigens dafür hergestellt wurde, dass sie verstanden wird“. So harmlos und selbstverständlich diese Hervorhebung des Werks als abgeschlossener Text klingt, angesichts des Streits zwischen den Literaturtheorien des 20. Jahrhunderts, wie belletristische Texte zu lesen und ästhetisch zu würdigen sind, ist das nicht nur ein geradezu revolutionäres Unterfangen. Vielmehr verteidigt Gerigk mit seiner Idee von der „poetologischen Differenz“ auch die Berechtigung einer persönlichen Lektüre.


Am Text kam freilich keiner ganz vorbei. Dennoch verschwand er jedes Mal, wenn zu seinem Verstehen erst die Biographie seines Autors studiert werden musste, oder wenn die ästhetische Qualität nur an einem idealen Leser sichtbar werden konnte, der sich dadurch auszeichnet, dass er im Gegensatz zu den meisten konkreten Lesern bereits ausgreifende Lektüren verarbeitet hatte, um erst vor deren Hintergrund den Text verstehen zu können.


Für Gerigk schafft die literarische Fiktion dagegen einen eigenen „Denkraum“, der in seinem inner-fiktionalen Ablauf erschlossen und verstanden werden muss. Dass uns der Autor mit seinem Text auch etwas sagen will oder dass die Konstruktion eines literarischen Werks eine außerfiktionale Begründung benötigt, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Erfordernisse nur im Hinblick auf die fiktionale Realität, wie sie aus dem Text hervorgeht, einen poetologischen Sinn ergeben: Die Wahrheit eines literarischen Textes erschließt sich nach Gerigk „jäh“ und unmittelbar aus der Differenz zwischen der in-nerfiktionalen Begründung eines zentralen Sachverhalts und seinem außerfiktionalen Sinn.


Schön aber wird ein Kunstwerk im Anschluss an Kant dadurch, dass es unsere „Erkenntniskräfte ‚Einbildungskraft' und ‚Verstand' in ein freies Spiel miteinander“ bringt. Dabei sei der Autor aber immer dem „natürlichen Verstehen verpflichtet“, das in der Lage ist, nicht nur die fiktive Wirklichkeit, sondern gleichzeitig ihre „Störungen“ wahrnehmen, verstehen und einordnen zu können. Exemplarisch verwendet Gerigk gerne den Träum oder das „Gedankenspiel“. Die literarischen Beispiele, welche Gerigk zur Untermauerung seiner Thesen anführt, sind zahllos und reichen von Homer bis zu russisch-europäischen und amerikanischen Erzählern. Wer nicht nur lesen, sondern über das Gelesene auch nachdenken möchte, erhält durch Gerigks Buch unverzichtbare Anregungen.


Horst-Jürgen Gerigk: Lesendes Bewusstsein. Untersuchungen zur philosophischen Grundlage der Literaturwissenschaft. De Gruyter Verlag, Berlin/Boston, 214 Seiten, 99,95 Euro.

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