Wespennest, Wien, Ausgabe 172 (Mai 2017)
Kirstin Breitenfellner
«Der Dichter ist der Hermeneut, nicht wir, die Leser»
Horst-Jürgen Gerigk: Lesendes Bewusstsein. Untersuchungen zur philosophischen Grundlage der Literaturwissenschaft. Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Band 42. Berlin: Walter de Gruyter 2016
«Es wäre um die Weltliteratur schlecht bestellt, wenn sie, um ihre Wirkung tun zu können, auf eine vorausgehende Interpretation durch die Literaturwissenschaft angewiesen wäre.»
In seinem neuen Buch unter dem Titel Lesendes Bewusstsein. Untersuchungen zur philosophischen Grundlage der Literaturwissenschaft legt Horst-Jürgen Gerigk so etwas wie die Quintessenz seines
Denkens über die Natur des literarischen Textes und die Möglichkeiten seines Verstehens vor, gegliedert in elf Essays und drei exemplarische Werkanalysen.
Um literarische Texte zu verstehen, brauche es eigentlich keine Literaturwissenschaft, lautet eine seiner Grundthesen,denn der adäquate Umgang mit Dichtung sei eine Naturanlage des Menschen. Dennoch
sei das menschliche Bewusstsein nicht dagegen gefeit, «sich <wissenschaftlich> gegen die eigene Erfahrung zu sperren. Die theoretische Selbstverkennung, das Zuwiderhandeln gegen die Naturanlage
des Verstehens, gehört offensichtlich ebenfalls zu den Wesenszügen des Menschen.»
Um keine falschen Erwartungshaltungen zu wecken, sei hier schon angemerkt: Das titelgebende «lesende Bewusstsein» bedeutet keine Rezeptionspsychologie, die, wie die Schaffenspsychologie, ausdrücklich
nicht zu den Forschungsthemen des emeritierten Heidelberger Professors für Slawistik und Vergleichende Literaturwissenschaft gehört, der zuletzt Monografien über Alexander Puschkin, Lew Tolstoi,
Fjodor Dostojewski und Iwan Turgenjew vorlegte (Puschkin und die Welt unserer Träume. Zwölf Essays zur russischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, 2011; Dichterprofile.
Tolstoj. Gottfried Benn. Nabokov, 2012; Dostojewskis Entwicklung als Schriftsteller. Vom «Toten Haus» zu den«Brüdern Karamasow», 2013; Turgenjew. Eine Einführung für den Leser von
heute, 2015).
Als Literaturwissenschaft «im strengeren Sinne» lässt Gerigk nur die Poetologie gelten, die sich mit dem Werk beschäftigt - und nicht mit dem Autor oder dem Leser. «Lesendes Bewusstsein» definiert er
als «Organ für die Rezeption literarischer Texte».«Das lesende Bewusstsein wird von einem literarischen Text auf ganz bestimmte Weise ausgerichtet und abgerichtet. <Ausgerichtet>, weil ein
literarischer Text von sich aus festlegt, was beachtet werden muss, um richtig zu verstehen. <Abgerichtet>, weil ein literarischer Text von sich aus festlegt, welche Fragen nicht an ihn
gestellt werden dürfen.»
Daran halten sich – Stichwort «Zuwiderhandeln gegen die Naturanlage des Verstehens» - freilich nicht alle Schulen der Literaturinterpretation. Es begann mit Nietzsche, dem Erfinder des
«Hinterfragens», der Kunst, aus einem Text das herauszulesen, was nicht gesagt sein wollte. Wenn Gerigk das Kunstwerk gegen jene Schulen verteidigt, die es für psychologische oder
soziologische Zwecke in den Dienst nehmen wollen, kann er sich sogar einer gewissen Polemik nicht erwehren. Und bezeichnet Freudianismus, Marxismus, Strukturalismus, Intertextualität und
Dekonstruktivismus als «Verwertungsgesellschaften des Zeitgeistes», die sich, obwohl «in genuin emanzipatorischer Absicht» gegründet, schnell zu «Zitierkartellen gegen Andersdenkende» entwickelt
hätten.
In Abgrenzung gegen diese beharrt Gerigk auf der Eigenständigkeit, aber auch der Verständlichkeit des literarischen Kunstwerks, die er sogar «absolut» nennt. Damit stellt er sich auch gegen seinen
akademischen Lehrer Hans-Georg Gadamer, der den subjektiven Anteil der Hermeneutik in den Vordergrund stellt. Das heißt freilich nicht, dass Gerigk nicht zugesteht, dass jeder «seinen» Dostojewski
liest. Aber sozusagen nur «zusätzlich» zu den Lesarten, die der Text seiner Meinung nach allen Lesern gleichermaßen und verbindlich anbietet.
Um diesen Ansatz zu verdeutlichen, zieht Gerigk die Lehre vom vierfachen Schriftsinn heran, die auf die Kirchenväter zurückgeht, und unterscheidet den buchstäblichen Sinn («Wir ‚lesen‘, was dasteht,
und verstehen, wie der Text es verlangt»), den allegorische Sinn («In einer Dichtung ist alles Metapher»), den tropologischen Sinn (nur er erlaubt die Anwendung des Verstandenen auf mich selbst) und
zuletzt den anagogischen Sinn: die poetologische Rekonstruktion oder Einsicht in die Komposition des Ganzen als Kunstwerk: die eigentliche Interpretation.
Literarische Kunstwerke sind nach Gerigk endliche Texte, die eine Welt schaffen und innerhalb dieser festsetzen, was zu gelten hat. Gegen ihre «Daten» kann man deswegen nicht wie bei Zeitungsartikeln
oder einer wissenschaftlichen Abhandlungen Einspruch erheben, was Letztere zu potenziell unendlichen Texten macht.
Dichtung definiert Gerigk als bereits verstandene Welt.«Der Dichter ist der Hermeneut, nicht wir, die Leser. Wir haben zu verstehen, was uns der Dichter zu verstehen gibt.»Mit Heideggers Begriff der
Sorge beziehungsweise Angst erklärt er den Hang des menschlichen Bewusstseins, alles, auch Unverständliches, zu interpretieren.«Angst ist der Motor für die Unterscheidung zwischen dem Zuträglichen
und Abträglichen. In der Angst gründen Genese und Grenzen der<Lesbarkeit>.»
Dichtung bezeugt sich selbst, sie ist Text ohne Sprecher und führt,«poetologisch verstanden, die Genese der Lesbarkeit von Welt eigens vor Augen: ohne Grenzen, das heißt ohne unverständlichen Rest.
Sie kann zwar Unverständliches als solches eigens darstellen, aber niemals als solche unverständlich sein.» Gerigk nennt Franz Kafkas Romane Das Schloss und Der Prozess als
Beispiele einer «Verständlichkeit <ex negativo>, denn zum Ausdruck gebracht wird durch Handlung und Charaktere die Unlesbarkeit der Welt: dies aber so verbindlich, wie es nur Dichtung
kann.»
Sein Begriffsinstrumentarium entlehnt Gerigk eher der Philosophie denn der Literaturwissenschaft. Mit Immanuel Kant erklärt er ästhetische Ideen und freie Schönheit als freies Spiel der
Erkenntniskräfte, mit Karl Jaspers' Begriffen <Gehäuse> und <Grenzsituation> den Grundkonflikt menschlichen Daseins und deswegen auch der Literatur. Broder Christiansens Philosophie
der Kunst von1909 entnimmt er die Begriffe <Dominante>,<Störung> und <Objektsynthese>. Er widmet sich dem Begriff des Kanons und der Frage, ob Kunst überhaupt realistisch sein
kann, die er verneint mit dem Hinweis darauf, dass literarische Texte endlich sind und deswegen immer eine Wahl zu treffen haben. Eine überraschende Analyse widmet er den ideologisch bedenklichen
Filmen Panzerkreuzer Potemkin (1925) von Sergej Eisenstein und Triumph des Willens (1935) von Leni Riefenstahl, wobei er konstatiert, dass es Riefenstahl gelungen sei, die
Wirklichkeit zur Kunst zu «entwirklichen».
«Jede Interpretation eines literarischen Textes beschwört mit der <poetologischen Rekonstruktion> immer auch das Rätsel der Kunst, das nicht zu lösen ist», schreibt Gerigk an einer Stelle und
führt die Anwendbarkeit seiner Theorie der Interpretation im achten Essay auch an acht Beispielen von literarischen Texten mit «artifizieller Lästigkeit» vor. Mit seinen abschließenden Werkanalysen
von Homers Odyssee, Goethes Werther und Hölderlins «Abendphantasie» beweist er schließlich die Fruchtbarkeit seines Interpretationsinstrumentariums für die verschiedensten
Gattungen.
Rhein-Neckar-Zeitung, Heidelberg, 15. Juli 2017
Erhellend für alle Leser
Vom Nutzen und Vorteil der Poetologie fürs Leben - Horst-Jürgen Gerigks Essays für bewusste Leser / Von Carina van Hoorn
Die meisten Wissenschaftler publizieren, damit die Fachwelt an ihren Gedanken teilhat. Einige Wissenschaftler aber vermögen ihre Arbeitsergebnisse so darzustellen, dass auch dem Laien wertvolle
Einsichten zuteilwerden. Komplexes Fachwissen auf eine verständliche Weise zu vermitteln, ist eine Kunst. Horst-Jürgen Gerigk beherrscht sie. Der bekannte Heidelberger Slavist und Komparatist, der im
November sein 80. Lebensjahr vollendet, hat nun eine Studie vorgelegt, die als Quintessenz von 50 Jahren Forschertätigkeit im Dienste der Weltliteratur gelten kann.
Gerigk geht von einer Grundprämisse zum Verständnis literarischer Texte aus: Diese kann man „psychologisch“ oder „poetologisch“ lesen. Die psychologische Lesart obliegt dem naiven Leser. Der liest,
weil er auf unterhaltsame Weise über den Tellerrand seines eigenen Lebens hinausschauen will, den literarischen Text wie eine durch die Wirklichkeit selbst vorgeschriebene Schilderung des Lebens. Der
andere Leser begreift den Text als komponiertes Gebilde einer künstlerischen Intelligenz, dessen Machart beobachtet und dessen Demonstrationsabsicht erschlossen werden muss, wenn der Text im
Verhältnis zum Leben richtig verstanden werden soll.
Der Mehrwert, der sich in Kenntnis der Machart des literarischen Textes einstellt, will zweifellos erarbeitet sein. Nicht jeder wird sie auf sich nehmen, aber, das sei vorweg bemerkt, jeder, der am
richtigen Verständnis von Literatur interessiert ist, sollte zur „Lese-Schulung“, wie Gerigk sagt, bereit sein. In elf atemraubenden Essays wird in aller Anschaulichkeit eine Theorie der Literatur
vermittelt, die - im wahren Wortsinn - erhellend ist und zum „Lesenden Bewusstsein“ beiträgt. Gerigk ist ein Hardliner unter den Literaturtheoretikern. Sein Credo: „Eine Literaturwissenschaft im
strengeren Sinne hat sich ausschließlich der Poetologie zu widmen,“ Konsequenterweise führen Ge-rigks Überlegungen damit zu Kants Vorstellung der vom dargestellten Gegenstand unabhängigen
„ästhetischen Idee“, die im Leser das freie Spiel der Erkenntniskräfte in Gang setzt. Die Überzeugung, dass der Grad der Erkenntnis abhängig ist vom Grad der künstlerischen Darstellung situiert das
lesende Bewusstsein zwischen zwei Polen.
Der eine ist bestimmt von wiedererkennbaren Wirklichkeitszeichen, die im Roman zu handlungstragenden materiellen Effekten einer Gedankenwelt werden; der andere Pol bezeichnet die Materialität des Erzählens selbst, das Gerigk an Mallarmés Ideal des „Schweigenden Gedichts“ deutlich macht: Dieses offenbart sich iniweißen unbeschrieben Blatt Papier. Das Erkenntnispotential, das Gerigk mit seinen theoretischen Ausführungen dem lesenden Bewusstsein zur Verfügung stellt, wird in drei ausführlichen Werkanalysen exemplifiziert, nämlich an Homers „Odyssee”, Goethes „Werther“ und Hölderlins „Abendphantasie“. Die Auswahl charakterisiert Gerigks Anspruch an sich selbst und an den Leser: Vorzugsweise dem Besten der Weltliteratur sollte man sein Interesse widmen.
Info: Horst-Jürgen Gerigk
„Lesendes Bewusstsein. Untersuchungen zur philosophischen Grundlage der Literaturwissenschaft“. Verlag De Gruyter, Berlin 2017. 330 S., 99,95 Euro.
Landshuter Zeitung, 5. August 2017
Magazin zum Wochenende
Ein Recht auf persönliche Lektüre
Horst-Jürgen Gerigk überdenkt die philosophischen Grundlagen der Literaturwissenschaft
Von Prof. Dr. Günter Fröhlich
Ein tiefer und offenbar unüberbrückbarer Graben klafft zwischen den bluten-gesäumten Vergnügungswegen des Lesers und den felsigen Gebirgstürmen literaturwissenschaftlichen Interpretierens. Während
der lesende Laie unbefangen das literarische Werk im psychischen Nachvollzug der Handlung und ihrer Protagonisten genießen möchte, trägt der professionelle Gelehrte komplexe Raster und Modelle an den
Text heran, ordnet diesen sprachlich, historisch, hermeneutisch und nach Maßgabe . der von ihm vertretenen Literaturtheorie ein. Die bloße Lektüre scheint diesem ebenso unangemes sen wie jenem die
Analyse mit offenbar sach- und werkfernen Methoden.
Für Horst-Jürgen Gerigk steht fest, dass sich jeder Leser am „Posi-turh“ des Textes zu orientieren hat. Dieser sei „,verstandene Welt', die eigens dafür hergestellt wurde, dass sie verstanden wird“.
So harmlos und selbstverständlich diese Hervorhebung des Werks als abgeschlossener Text klingt, angesichts des Streits zwischen den Literaturtheorien des 20. Jahrhunderts, wie belletristische Texte
zu lesen und ästhetisch zu würdigen sind, ist das nicht nur ein geradezu revolutionäres Unterfangen. Vielmehr verteidigt Gerigk mit seiner Idee von der „poetologischen Differenz“ auch die
Berechtigung einer persönlichen Lektüre.
Am Text kam freilich keiner ganz vorbei. Dennoch verschwand er jedes Mal, wenn zu seinem Verstehen erst die Biographie seines Autors studiert werden musste, oder wenn die ästhetische Qualität nur an
einem idealen Leser sichtbar werden konnte, der sich dadurch auszeichnet, dass er im Gegensatz zu den meisten konkreten Lesern bereits ausgreifende Lektüren verarbeitet hatte, um erst vor deren
Hintergrund den Text verstehen zu können.
Für Gerigk schafft die literarische Fiktion dagegen einen eigenen „Denkraum“, der in seinem inner-fiktionalen Ablauf erschlossen und verstanden werden muss. Dass uns der Autor mit seinem Text auch
etwas sagen will oder dass die Konstruktion eines literarischen Werks eine außerfiktionale Begründung benötigt, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Erfordernisse nur im Hinblick auf die
fiktionale Realität, wie sie aus dem Text hervorgeht, einen poetologischen Sinn ergeben: Die Wahrheit eines literarischen Textes erschließt sich nach Gerigk „jäh“ und unmittelbar aus der Differenz
zwischen der in-nerfiktionalen Begründung eines zentralen Sachverhalts und seinem außerfiktionalen Sinn.
Schön aber wird ein Kunstwerk im Anschluss an Kant dadurch, dass es unsere „Erkenntniskräfte ‚Einbildungskraft' und ‚Verstand' in ein freies Spiel miteinander“ bringt. Dabei sei der Autor aber immer
dem „natürlichen Verstehen verpflichtet“, das in der Lage ist, nicht nur die fiktive Wirklichkeit, sondern gleichzeitig ihre „Störungen“ wahrnehmen, verstehen und einordnen zu können. Exemplarisch
verwendet Gerigk gerne den Träum oder das „Gedankenspiel“. Die literarischen Beispiele, welche Gerigk zur Untermauerung seiner Thesen anführt, sind zahllos und reichen von Homer bis zu
russisch-europäischen und amerikanischen Erzählern. Wer nicht nur lesen, sondern über das Gelesene auch nachdenken möchte, erhält durch Gerigks Buch unverzichtbare Anregungen.
Horst-Jürgen Gerigk: Lesendes Bewusstsein. Untersuchungen zur philosophischen Grundlage der Literaturwissenschaft. De Gruyter Verlag, Berlin/Boston, 214 Seiten, 99,95 Euro.