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Osteuropa, 57 (2007), Heft 5, Seite 273 – 274
Dostoevsky Studies. The Journal of the International Dostoevsky Society. New Series Vol. IX. Tübingen: Attempto Verlag 2005.
257 S. 48,- €
Die vorliegende Nummer der „Dostoevsky Studies“ ist der 2005 verstorbenen Nadine Natov, Gründungsmitglied und Ehrenpräsidentin der Internationalen Dostoevskij-Gesellschaft, gewidmet und porträtiert
die Wissenschaftlerin in neun knappen Beiträgen (S. 221-245). Das Heft bietet außerdem -neben 70 Druckseiten laufender Dostoevskij-Bibliographie - sieben englische und zwei deutsche Aufsätze, auf die
hier in der gebotenen Kürze eingegangen sei. Das negative Amerika-Bild Dostoevskijs in den 1860er und 1870er Jahren ist Gegenstand des Beitrags von Rudolf Neuhäuser, der die Ursprünge betreffender
Konzepte bis in die russische Publizistik der 1830er Jahre zurückverfolgt und zugleich interessante Bezüge zu Vladimir Odoevskijs „Russischen Nächten“ sowie Charles Sealsfields Amerika-Romanen
(übrigens auch zu unserer heutigen globalisierten, neoliberalen Wirtschaftsordnung) herstellt. Dostoevskijs Amerika erscheint demnach weniger als reales Gesellschaftssystem denn als Symbol jener
utilitaristischen, materialistischen Denkströmungen, gegen die Dostoevskij in seinen Romanen polemisiert, während er in späten Aufzeichnungen zumindest die technologische Überlegenheit Amerikas
anerkennt. Der Aufsatz Wolf Schmids hat zwei methodische Prämissen: erstens einen narratologisch fundierten Ereignis-Begriff, unter dem die „mentalen Wandlungen" der Figuren in den „Brüdern
Karamazov" analysiert werden, zweitens die Spaltung des abstrakten Autors in zwei widerstreitende Instanzen, den „mit aller Gewalt [. . .] glauben wollenden Dostoevskij I" und den „im ,Schmelzfeuer
der Zweifel' gequälten Dostoevskij II“ (S. 44), die auch den „Zwiespalt zwischen der transzendenten und immanenten Begründung der Konversionen“ erklärt.
Carol Apollonio Flath stellt die englische Dostoevskij-Übersetzerin Constance Garnett (1861-1945) vor, würdigt kritisch ihr übersetzerisches Oeuvre und informiert über interessante biographische
Aspekte, insbesondere die Freundschaft mit russischen Emigranten, die sie zu ihrer Beschäftigung mit russischer Literatur inspirierten, die in ihrer Heimat freilich weniger durch literarische, denn
durch revolutionäre und kriminelle Aktivitäten aufgefallen waren. Steven Cassidy untersucht die sozialistische jiddische Publizistik in den USA um 1900 und arbeitet dabei die begrenzte, bisweilen
entstellende Dostoevskij-Rezeption einiger russisch-jüdischer Intellektueller heraus. Geir Kjetsaa liefert eine kleine Skizze über „dangerous creatures“, einen Vergleich von Dostoevskijs oft
albtraumhaft beunruhigenden Insekten, Spinnen und Reptilien mit den stets positiv gesehenen Tieren bei Tolstoj (besondere Aufmerksamkeit widmet er Bienen und Ameisen). Der Beitrag von Richard Peace
wendet sich dem Syllogismus als einer Grundstruktur im Denken vieler Figuren Dostoevskijs zu. Als westlich-rationales Element erscheint es bei Dostoevskij als etwas dem russischen Denken Fremdes, das
zu absurden Schlußfolgerungen und fatalen persönlichen Konsequenzen führt (Raskol'nikov, Kirillov etc.). Nel Grillaerts Analyse des Konzepts des „čelovekobog" (Mensch-Gott) bei Dostoevskij zeichnet
nach, wie der Begriff durch den Kommunisten und Petraševcen Nikolaj Spešnev als Übernahme des Anthropotheismus Feuerbachs eingeführt wird und im russischen Kontext in Gegensatz zu dem orthodoxen
Konzept vom Gottmenschen (bogočelovek) Christus tritt. Bei Dostoevskij steht der „Mensch-Gott“ hingegen für die Aporien des westlichen (katholischen, säkularisierten, materialistischen) Denkens, und
wie bei Peace dient hier u.a. Kirillovs absurder Versuch der Selbstvergöttlichung durch Selbstmord in „Die Dämonen“ als Beispiel.
Der Frage des Scheiterns Myškins in „Der Idiot“ ist der Aufsatz Predrag Cicovackis gewidmet, der seine Interpretation auf einen Vergleich mit Wagners Parsifal stützt. Andrea Zinks Ausführungen „Zur
Rechtfertigung des Verbrechens in Dostojewskijs Aufzeichnungen aus einem Totenhaus“ rollen den Problemkomplex Verbrechen - Schuld -Unglück - Volk auf und legen, bisweilen erfrischend
polemisch, den Finger auf gewisse Ungereimtheiten in Dostoevskijs Argumentationen.
Trotz der Vielfalt der Themen und Ansätze sowie der unterschiedlichen Tiefe der Auseinandersetzung wirkt der Band in seinem Kreisen um Fragen der Philosophie und Gesellschaftstheorie doch insgesamt
recht homogen. Und was Carol Flath in ihrer Besprechung eines Sammelbandes über „Die Brüder Karamazov“ (R.L. Jackson, Ed.: A new Word on „The Brothers Karamasov, 2004) formuliert,
darf auch für das vorliegende Heft geltend gemacht werden: „All the essays offer something original.“ (S. 210)
Frank Göbler