Prof. Dr. Horst-Jürgen Gerigk
Prof. Dr. Horst-Jürgen Gerigk

Horst-Jürgen Gerigk
(Universität Heidelberg)



Dostojewskij-Forschung im deutschen Sprachraum
zwischen 1971 und 2011


Ein Forschungsbericht




Die hier anstehende Aufgabe ist zweifellos angesichts der Fülle des Materials keine leichte Aufgabe. Folgendes Vorgehen bietet sich an, um nicht angesichts der Einzelforschung die große Linie aus dem Blick zu verlieren. Zunächst sind die Buchpublikationen kenntlich zu machen, die von einem einzigen Autor stammen, unter Einbeziehung von Sammelbänden, die sich ausschließlich mit Dostojewskij beschäftigen. Sobald dies geschehen ist, können bereits die Tendenzen der Dostojewskij-Forschung im deutschen Sprachraum abgelesen werden. Zum deutschen Sprachraum gehören Deutschland, Österreich und die Schweiz, wobei Deutschland bis zur Wiedervereinigung im Jahre 1989 in Westdeutschland und Ostdeutschland aufgeteilt war. Beide Teile Deutschlands hatten eine eigene Dostojewskij-Forschung, die aufgrund der verschiedenen politischen Bedingungen jeweils andere Tendenzen aufweist. So lassen sich etwa in der Dostojewskij-Forschung Westdeutschlands keinerlei marxistische Tendenzen feststellen. Der erste Teil des hier vorgelegten Forschungsberichts will also die Makrostrukturen der Dostojewskij-Forschung im deutschen Sprachraum zwischen 1971 und 2011 herausarbeiten. Im zweiten Teil wird die Einzelforschung, wie sie sich in Aufsätzen über Dostojewskij darbietet, vorgestellt. Das gewonnene Schema der Problemfelder wird dabei automatisch seinen Dienst tun, was die thematische Einordnung anbelangt. Im Resultat wird ein objektives Bild der Dostojewskij-Forschung im deutschen Sprachraum während der letzten vierzig Jahre vorliegen. Ein Forschungsbericht wie der vorliegende hat allerdings nicht die Aufgabe, die gesamte Sekundärliteratur bibliographisch zu erfassen. Es kommt darauf an, Fragestellungen sichtbar zu machen.

 

 

 

Erster Teil
Buchpublikationen und Sammelbände



1971 veröffentlicht Frank Thiess ein Buch mit dem Titel „Dostojewski. Realismus am Rande der Transzendenz“ (Stuttgart: Seewald Verlag). Mit seinen 339 Seiten ist dies das Längste, was jemals von einem deutschen Schriftsteller über Dostojewskij geschrieben wurde. Länger als das Dostojewskij-Kapitel in Stefan Zweigs „Drei Meister“ von 1919 und auch länger als Thomas Manns durchaus ausführlicher Artikel „Dostojewskij – mit Maßen“ von 1946 sowie auch länger als das, was Anna Seghers (Pseudonym für Netty Reiling) in ihrem Buch „Über Tolstoi. Über Dostojewski“ (Berlin: Aufbau-Verlag 1963) geschrieben hat. Frank Thiess wurde 1890 in Livland (Eluisenstein bei Üxküll) als Sohn eines Baumeisters geboren. Er starb 1977 in Darmstadt. Bereits 1893 emigrierten seine Eltern „unter dem Druck der Russifizierung“ des Baltikums nach Deutschland. Seine Hauptwerke wurden in alle Kultursprachen übersetzt, besonderen Ruhm erntet er mit seinem Tatsachenroman „Tsushima“ von 1936, der den russisch-japanischen Seekrieg von 1904-1905 zum Thema hat. Geschildert wird die Fahrt des russischen Admirals Rojestwenskij (sic! -- so die Schreibung bei Thiess), der auf verlorenem Posten durchhält, als seine Geschwader in der Schlacht von Tsushima vernichtet werden. Thiess studierte Germanistik, Geschichte und Philosophie in Berlin und Tübingen und ist auch als Kulturphilosoph hervorgetreten. 1922 veröffentlicht er Essays über „Gogol und seine Bühnenwerke“. Sein Dostojewskij-Buch ist aus einer intensiven Aneignung der deutschen und auf Deutsch vorliegenden englischen und russischen Dostojewskij-Forschung hervorgegangen, darunter auch Wjatscheslaw Iwanows Monographie „Dostojewskij. Tragödie – Mythos -- Mystik“ (Tübingen 1932). Das Dostojewskij-Bild Thomas Manns wie auch das George Steiners lehnt er entschieden ab. Politisch beruft sich Thiess auf Fedor Stepuns „Bolschewismus und christliche Existenz“ (Minden 1959) und mokiert sich darüber, dass Lenin Dostojewskij vorwirft, mit den „Dämonen“ Netschajew diskreditiert zu haben. Thiess betrachtet Leben und Werk Dostojewskijs als Einheit. Die Stichworte „Das Lächerliche (I und II, S. 98-131) „Leiden“ (I und II, S.132-169) und „Verbrecher“ (I, II und III, S. 214-284) setzen Schwerpunkte, in denen die literarischen Werke jeweils thematisch gebündelt werden. Eine Gliederung mit solchen Evokationen ist das Werk eines Dichters. Das letzte Kapitel dieser Monographie heißt denn auch „Traum und Tod.“ Nebenbei sei vermerkt: Es gilt als erwiesen, dass Frank Thiess für die Zeit des Dritten Reichs den Begriff „innere Emigration“ geprägt hat.

Ebenfalls im Jahre 1971 bringt Ralf Schröder in seinem Buch „Gorkis Erneuerung der Faust-Tradition. Faustmodelle im russischen geschichtsphilosophischen Roman“ (Berlin: Rütten & Loening) ein umfangreiches und lesenswertes Kapitel über Dostojewskij unter (S. 76-131).

1972 kommt „Wir und Dostojewskij“ heraus: „Eine Debatte mit Heinrich Böll, Siegfried Lenz, André Malraux, Hans Erich Nossak, geführt von Manès Sperber“ (Hamburg: Hoffmann und Campe). Bereits 1969 hatte Heinrich Böll den Film „Der Dichter und seine Stadt: Fjodor Michailowitsch Dostojewski und Petersburg“ (Regie: Uwe Brandner, 56 Minuten) als „Autor und Erzähler“ präsentiert, worin im damals gegenwärtigen Leningrad nicht nur die Sicht Raskolnikows schwarz-weiß und düster dokumentiert wird. 

Ebenfalls 1972 erscheinen von Verena Flick „Untersuchungen zur Ästhetik Dostoevskijs in seinen Romanen und Erzählungen“ (Phil. Diss. Heidelberg: Selbstverlag, 257 Seiten), worin im Rückgriff auf Schillers Überlegungen zum „Schönen“ und zur „ästhetischen Erziehung des Menschen“ das Oeuvre Dostojewskijs von den „Armen Leuten“ bis zu den „Brüdern Karamasow“, einschließlich des „Tagebuchs eines Schriftstellers,“ mit schnellem und schnellstem Schritt in den Blick genommen wird. Die Annahme der Verfasserin, Dostojewskijs Erzählkunst beruhe nicht auf begriffsscharfem Kalkül, ist missverstandener Kant, den sie zitiert.

1973 erscheint „Der Textaufbau in den Erzählungen Dostoevskijs“ von Wolf Schmid (München: Wilhelm Fink). Mit dieser Arbeit sichert sich ihr Verfasser einen festen Platz innerhalb der Dostojewskij-Forschung. Die Arbeit war als Dissertation bei Johannes Holthusen geschrieben worden. Holthusen selber hatte 1969 seine Monographie „Prinzipien der Komposition und des Erzählens bei Dostojevskij“ (Köln und Opladen: Westdeutscher Verlag) veröffentlicht. Schmid ging methodisch von Michail Bachtin aus und entwarf eine Typologie der Erzählerpositionen in Dostojewskijs Gesamtwerk. Besondere Beachtung finden dabei Dostojewskijs früher Roman „Der Doppelgänger“, worin Personentext und Erzählertext eine beirrende Mischung eingehen, sowie sein später Roman „Der Jüngling“. Was seine Analyse des „Jünglings“ betrifft, so beruft sich Schmid dabei mehrfach auf die Arbeit „Versuch über Dostoevskijs ‚Jüngling‘. Ein Beitrag zur Theorie des Romans“ von Horst-Jürgen Gerigk, die 1965 erschienen ist (München: Wilhelm Fink).

1974 legt Brigitte Schultze ihre Arbeit „Der Dialog in F. M. Dostoevskijs ‚Idiot‘“ vor (München: Otto Sagner).

Ebenfalls 1974 erscheint Wolfgang Müller-Lauters „Dostoevskijs Ideendialektik“ (Berlin, New York: Walter de Gruyter), worin der philosophische Zugriff von Reinhard Lauths umfangreicher Monographie „‘Ich habe die Wahrheit gesehen‘. Die Philosophie Dostojewskis in systematischer Darstellung“ (München: Piper 1950) eine Fortsetzung, Weiterung und Zuspitzung findet. Müller-Lauter demonstriert das für Dostojewskij typische Gegeneinander von Glaube und Unglaube am exemplarischen Schicksal Nikolaj Stavrogins.

1974 erscheint des weiteren, herausgegeben von Sigfrid Hoefert, ein dokumentarischer Sammelband, „Russische Literatur in Deutschland. Texte zur Rezeption von den Achtziger Jahren bis zur Jahrhundertwende“ mit Beiträgen über Dostojewskij von Wilhelm Henckel, G. Rollard, Michael Georg Conrad, Hermann Conradi und Georg Brandes (Tübingen: Max Niemeyer, S. 2-56).

1975 wirft Erhard Hexelschneider in seiner Broschüre „Ausverkauf eines Mythos. Zur Interpretation sowjetischer Literatur in der BRD“ (Berlin: Union Verlag, VOB) der westdeutschen Dostojewskij-Forschung vor, sie instrumentalisiere die russische Literatur zur Waffe im Kampf mit dem „Sowjetkommunismus“, ganz im Geiste des „kalten Krieges“: „Besonders Dostojewski hat zu einseitigen Deutungsversuchen aus religiöser Sicht angeregt“ (S. 81). Als Beleg dafür werden Heinrich Böll, Gisbert Kranz, Fedor Stepun und Werner Bergengruen im Detail referiert.

1976 behandelt Konrad Onasch aus protestantischer Perspektive das Thema „Der verschwiegene Christus. Versuch einer Poetisierung des Christentums in der Dichtung F. M. Dostojewskis“ (Berlin: Union Verlag, VOB). Leben und Werk werden chronologisch abgeschritten (I.) Der junge Dostojewskij, (II.) Auf der Suche nach dem „Neuen Wort“, (III). Vollendung: Das „vorletzte Wort“. Der daran anschließende „Exkurs zur Wirkungsgeschichte“ (S. 206-212) ist ein eindrucksvolles Lippenbekenntnis zur sowjetrussischen Dostojewskij-Forschung.

Ebenfalls 1976 erscheint von Maximilian Braun „Dostojewskij. Das Gesamtwerk als Vielfalt und Einheit“ (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht). Leben und Werk werden hier solide und leidenschaftslos abgehakt.

1980 präsentiert Piper den „Freunden unseres Verlages mit allen guten Wünschen zum Jahreswechsel 1980/81“ den Sammelband „Über Dostojewski“ mit Beiträgen von Dmitri Mereschkowski, Andre Gide, Julius Meier-Graefe, Sigmund Freud, Walter Benjamin, Thomas Mann, Nathalie Sarraute, Manes Sperber, Heinrich Böll, Siegfried Lenz, Horst Bienek, die jeweils mit einem Auszug aus einer bereits vorliegenden Veröffentlichung zu Wort kommen (München und Zürich: R. Piper & Co. Verlag).

Ebenfalls 1980 veröffentlicht Karl-Heinz Schach seine juristische Dissertation der Universität Tübingen zum Thema „Verbrechen und Strafe in den Werken F. M. Dostojewskijs von den ‚Aufzeichnungen aus einem Totenhaus‘ bis zu ‚Schuld und Sühne.‘“ Das Vorwort nennt Ludolf Müller als slawistischen Berater.

1981 erscheint von Felix Philipp Ingold die inzwischen klassische Studie „Dostojewskij und das Judentum“ (Wiesbaden: Insel Verlag). Im gleichen Jahr veröffentlicht Ilma Rakusa ihre ausführlich kommentierte Dokumentation „Dostojewskij in der Schweiz. Ein Reader“ (Frankfurt am Main: Insel Verlag, unter Mitwirkung von Felix Philipp Ingold). Nicht nur Ilma Rakusas Einleitung, „Zwischen Vorurteil und Widerspruch. Dostojewskij in der Schweiz“ (S. 9-45), ist darin ein unentbehrlicher Forschungsbeitrag.

1982 lässt Jens Malte Fischer mit seinem Sammelband „Psychoanalytische Literaturinterpretation“ auch die bedeutende Abhandlung von Otto Rank wünschenswert leicht zugänglich werden: „Der Doppelgänger“ von 1914 (S. 104-188), worin es, die Analyse einleitend, heißt: „Wohl die erschütterndste und psychologisch tiefste Darstellung hat das Thema in Dostojewskis Jugendroman ‚Der Dopppelgänger‘ (1846) gefunden“ (München und Tübingen: Deutscher Taschenbuch-Verlag und Niemeyer).

Ebenfalls 1982 erscheint Ludolf Müllers „Dostojewski. Sein Leben, sein Werk, sein Vermächtnis“ (München: Erich Wewel Verlag). Müller hat recht, wenn er gegen Michail Bachtin einwendet, dass Dostojewskij in seinen Romanen sehr wohl eindeutig Stellung bezieht und genau erkennen lässt, was von den dargestellten Ideen zu halten ist: und das durchaus parteiisch und ganz und gar nicht in neutraler Distanz im Sinne der von Bachtin behaupteten „Polyphonie“ der Stimmen. Nicht recht aber hat Ludolf Müller, wenn er meint, Dmitrij Karamasow wähle am Ende des Romans den „sich ihm öffnenden Weg der Flucht.“. Dmitrij nimmt vielmehr, ganz im Gegenteil, die Strafe für ein Verbrechen an, das er gar nicht begangen hat. Dostojewskijs Pointe wird also von Ludolf Müller regelrecht ausgeblendet. Eine recht kuriose Fehldeutung!

Unter der Leitung Ludolf Müllers sind eine Reihe von kleineren Arbeiten seiner Schüler erschienen: Hans Peter Beer: „Die Gestalt des Evgenij Pavlovič Radomskij in Dostoevskijs Roman ‚Der Idiot‘“ (Tübingen 1978), Christiane Heim: „Die Gestalt Svidrigajlovs in Dostoevskijs Roman ‚Verbrechen und Strafe‘“ (Tübingen 1978) und Dorothee Schwarz, Thomas Heckert, Rudolf Pollach: „Studien und Materialien zu Dostoevskijs Roman ‚Der Idiot‘“ (Tübingen 1978), als „Skripten des Slavischen Seminars der Universität Tübingen“, Nr. 15, 16 und 17. Ludolf Müller selbst lieferte noch „Dostojewskij und Tübingen. Mit einer Beilage: Ein Briefwechsel über Dostojewskij mit der ‚Zeit‘“ (Tübingen 1981, Skript Nr. 22). Und von Dmitrij Tschižewskij erschien „Dostoevskij und die Aufklärung“ (Tübingen 1975, Skript Nr.5). Die Serie der „Skripten“ wird später durch „Vorträge am Slavischen Seminar der Universität Tübingen“ fortgesetzt, als deren Nr. 29 im Jahre 1999 „Alesas Rede am Stein: ‚Das ganze Bild‘“ von Robert Louis Jackson herauskommt. Erwähnenswert ist zudem die Einzelausgabe Fjodor M. Dostojewskij „Der Großinquisitor“, übersetzt von Marliese Ackermann, herausgegeben und erläutert von Ludolf Müller (München: Erich Wewel 1985).

Besondere Hervorhebung verdienen zwei Publikationen von Rudolf Neuhäuser: „Das Frühwerk Dostoevskijs. Literarische Tradition und gesellschaftlicher Anspruch“ (Heidelberg: Carl Winter 1979) und „F. M. Dostojevskij: Die grossen Romane und Erzählungen. Interpretationen und Analysen“ (Wien, Köln,. Weimar: Böhlau Verlag 1993). Beide Werke gelten inzwischen als Standardwerke, mit denen Rudolf Neuhäuser das gesamte Panorama des Dostojewskijschen Schaffens in den Blick nimmt. Es empfiehlt sich, die beiden Bücher hintereinander zu lesen, um die Leistung Rudolf Neuhäusers zur Gänze würdigen zu können. Im „Frühwerk“ erläutert er zunächst den zeitgeschichtlichen Hintergrund wie auch den lebensgeschichtlichen Kontext des Autors und schildert dann im Detail die Umstände der Verhaftung Dostojewskijs im Jahre 1849. Darauf folgen ausführliche Analysen des „Doppelgängers“, der „Wirtin“ sowie von „Onkelchens Traum“ und den „Winterlichen Aufzeichnungen“. Den Abschluss bilden Analysen der „Erniedrigten und Beleidigten“ und der „Aufzeichnungen aus dem Untergrund.“ Im zweiten Buch folgt eine ausführliche Analyse der „Aufzeichnungen aus einem toten Hause“ (sic! -- nicht „Totenhaus“, wie sonst üblich) im Rahmen der „Voraussetzungen für das Verständnis des Schaffens Dostojewskijs nach der Rückkehr aus Sibirien.“ Ein jeweils eigenes Kapitel erhalten „Schuld und Sühne“, „Der Spieler“, „Der Jüngling“, „Der Idiot“ (in dieser Reihenfolge), „Der Traum eines lächerlichen Menschen“ und schließlich „Die Brüder Karamasow“, während „Die Dämonen“ nur kurz gestreift werden, wenn auch mehrfach. Michail Bachtins These, Dostojewskij habe „polyphone Romane“ geschrieben, die die Meinung des Autors nicht erkennen lassen, wird als unrichtig zurückgewiesen. Besondere Beachtung verdient das Kapitel „Varianten manipulierten Verhaltens“ (S. 94-117), worin die Erzählungen „Der ewige Gatte“ und „Die Sanfte“ im europäischen Zusammenhang der Eheproblematik erörtert werden. Es werden aber nicht nur diese beiden Erzählungen, sondern auch „Der Traum eines lächerlichen Menschen“ im Detail analysiert. Im Kontext von „Schuld und Sühne“ werden vor allem auch Dostojewskijs Kenntnisse der unmittelbar vorangehenden literarischen Tradition verdeutlicht: Victor Hugo, George Sand, Balzac und insbesondere Chateaubriands großangelegte Verteidigung des Christentums „Le Genie du Christianisme“ mit dem Kapitel „Von den Gewissensbissen“.

1984 erscheint von Katharina Susanne Dieterich „Die geistes- und sozialgeschichtliche Dimension des Romans ‚Der Jüngling‘ von F. M. Dostoevskij, dargestellt insbesondere am Beispiel der Frauengestalten des Romans“ (Phil. Diss. Tübingen: Selbstverlag, 173 Seiten). In dezidierter Abgrenzung von einer radikal poetologischen Analyse, wie sie Horst-Jürgen Gerigk mit seinem „Versuch über Dostoevskijs ‚Jüngling‘“ (München 1965) vorgelegt hat, erliegt die Verfasserin der Gefahr, nicht nur die Frauengestalten des „Jünglings“ sozialkritisch zu sehen, und reduziert damit den Roman auf die Darstellung „soziokultureller Typen“ (ihr Wort), so dass sogar sowjetrussische Kritiker wie Kirpotin und Ermilow plötzlich ernstgenommen werden. Dessen ungeachtet sind die Personenbeschreibungen der Verfasserin lesenswert, insbesondere was Katerina und Sofja betrifft (S. 46-103). Grundsätzlich gesehen, ist die Verfasserin, wie auch ihr Doktorvater Ludolf Müller, zu einer poetologischen Lektüre unfähig.

1985 erscheint von Gerhard Dudek „Die Brüder Karamasow. Zur Struktur der Romane F. M. Dostojewskis“ (Berlin: Akademie-Verlag). Mit diesem Sitzungsbericht der „Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig“ liefert der Verfasser eine vorbildliche Verknüpfung von kritischem Forschungsbericht und eigenständiger, überzeugender Position unter dosierter Nutzung von Michail Bachtins Dostojewskij-Buch in dessen zweiter Auflage von 1963. Das Resultat ist eine lohnende Lektüre. Der programmatische Rückbezug auf Marx, Engels, Lenin und Anna Seghers fehlt so wenig wie die positive Integration einschlägiger Ergebnisse auch der zeitgenössischen Forschung des „Westens“ (R. L. Jackson, R. L. Belknap, J. Catteau, H.-J, Gerigk, A. Rammelmeyer).

1986 diskutiert Winfried Baumann die Frage „Orientierungen oder Desorientierungen an Dostoevskij? Literaturgeschichtliche Fragestellungen des 20. Jahrhunderts“ (Hamburg: Buske).

1987 legt Karla Hielscher ihre Broschüre „Von Marx zu Dostoevskij“ vor. Untertitel: „Die Rolle F. M. Dostoevskijs in den aktuellen ideologischen Debatten in der Sowjetunion 1954-1983“ (Hagen: Margit Rottmann Medienverlag). Begonnen wird mit einem Überblick, die russische Dostojewskij-Rezeption zwischen 1954 und 1981 betreffend, an deren Anfang die „zaghafte Rehabilitierung des Schriftstellers“ nach Stalins Tod steht. Die Verfasserin betont, Michail Bachtins umstrittene (und bestreitbare) These, Dostojewskijs Romane seien durch Vielstimmigkeit und das dialogische Prinzip definiert (neu aufgelegt, überarbeitet und ergänzt, Moskau 1963, als „Problemy poetiki Dostoevskogo“), habe überhaupt erst den politischen Raum dafür geöffnet, dass Dostojewskij in der Sowjetunion öffentlich diskutiert werden konnte. Jurij Karjakin wird mit einem Aufsatz aus dem Jahre 1963 als Initiator dieser Öffnung gekennzeichnet, unterstützt von Georgij Fridlender. Als das zentrale Kapitel in Karla Hielschers Broschüre ist „Der Kampf um die ‚Dämonen‘“ (S. 59-83) anzusehen. Der slawophile Dostojewskij sollte aus solcher Turbulenz dem „neurussischen Nationalismus“ zugeführt werden.

Seit 1988 liegt unter dem Titel „Dostojewskij. Sträfling – Spieler – Dichterfürst“ die Monographie von Geir Kjetsaa auf Deutsch vor, aus dem Norwegischen übersetzt von Astrid Arz (Gernsbach: Casimir Katz Verlag, zuerst Oslo 1985), 1992 auch als Lizenzausgabe im VML-Verlag, Wiesbaden, erschienen. Es ist Geir Kjetsaa auf vorbildliche Weise gelungen, mit seiner lebendigen Darstellung von Leben und Werk Dostojewskijs ein breites Publikum zu erreichen.

Ebenfalls 1988 erscheint von Fritz Wanner „Leserlenkung. Ästhetik und Sinn in Dostoevskijs Roman ‚Die Brüder Karamazov‘“ (München: Otto Sagner), eine Arbeit, die hinter den Forschungsstand zurückfällt.

1990 liefert uns Stefan Klessmann ein völlig unerwartetes Beispiel dafür, was sich an der Wirkungsgeschichte Dostojewskijs alles ablesen lässt, unter dem programmatischen Titel „Deutsche und amerikanische Erfahrungsmuster von Welt. Eine interdisziplinäre, kulturvergleichende Analyse im Spiegel der Dostojewskij-Rezeption zwischen 1900 und 1945“ (Regensburg: S. Roderer Verlag). Zum Erhebungsmaterial der deutschen Kultur gehören Rilke, der Expressionismus, Hermann Hesse, Gottfried Benn, Nietzsche, Leo Löwenthal, Sigmund Freud, der Niedergang der christlichen Großkirchen Deutschlands, die Rezeption Dostojewskijs in der deutschen Kunst (Kirchner, Barlach, Ernst Heckel, Max Beckmann) und schließlich der Nationalsozialismus. Der amerikanische Kulturraum ist präsent mit Dreiser, Hemingway, Steinbeck, Thomas Wolfe, Henry Miller, William Faulkner, Hollywood-Film (Sternbergs „Crime and Punishment“), James T. Farrell und anderen.

1990 erscheint von Natalie Reber „Dostojewskijs ‚Brüder Karamasow‘. Einführung und Kommentar“ (München: Kyrill & Method Verlag). Bereits 1964 war Natalie Reber mit ihren „Studien zum Motiv des Doppelgängers bei Dostojevskij und E. T. A. Hoffmann“ hervorgetreten (Gießen: Wilhelm Schmitz).

1991 erscheint von J. J. Ranftl „Von der ,wirklichen‘ zur ‚behaupteten‘ Schuld: Studie über den Einfluß von F. M., Dostojewskijs Romanen ‚Schuld und Sühne‘ und ‚Der Doppelgänger‘ auf Franz Kafkas Roman ‚Der Prozeß‘“ (Erlangen: Verlag Palm & Enke).

1993 veröffentlicht Birgit Harreß ihr Buch „Mensch und Welt in Dostoevskijs Werk. Ein Beitrag zur poetischen Anthropologie“ (Köln, Weimar, Wien: Böhlau Verlag). Bestechend die Gliederung: Dostojewskijs literarisches Werk wird als künstlerische Einheit angesehen und in drei große Abschnitte eingeteilt: das „Frühwerk“ (1846-1849), das „Übergangswerk“ (1859-1865) und das „Spätwerk“ (1866-1880). Zu jedem Abschnitt wird die „Typologie der Helden“ erarbeitet. Diese Typologie hat ihre Grundlage im jeweiligen Verhältnis von Innenwelt und Außenwelt des Helden. Im Frühwerk ist die Welt ein Absurdum, im Übergangswerk eine Bühne, im Spätwerk ein Kampfplatz. Durch solche Abstraktionen gelangt die Verfasserin zu der für den jeweiligen Abschnitt zuständigen Makrostruktur, aus der sich die Anlage der einzelnen literarischen Texte dieses Abschnitts erklären lässt. Erst im Spätwerk eröffnet sich die Möglichkeit einer Versöhnung von Mensch und Welt durch die christliche Religion. Im literarischen Gesamtwerk Dostojewskijs einen kohärenten gedanklichen Entwicklungsprozess aufzudecken, ist das Ziel der Verfasserin. Es fällt auf, dass auf Dostojewskijs Sträflingsreport „Aufzeichnungen aus einem Totenhaus“ nicht eigens eingegangen wird. Auch Dostojewskijs Publizistik wird nicht mit einbezogen. Das philosophische Fundament liefern Karl Jaspers, Martin Heidegger und Sören Kierkegaard. Außerdem orientiert sich die Verfasserin an Alfred Adler. Den Leitbegriff der „poetischen Anthropologie“ hat ansonsten nur noch Gabriele Selge in ihrer Arbeit „Anton Čechovs Menschenbild. Materialien zu einer poetischen Anthropologie“ (München: Wilhelm Fink 1971) in Anschlag gebracht. Von deutschsprachigen Monographien werden hervorgehoben: Ina Fuchs: „‘Homo Apostata‘. Die Entfremdung des Menschen. Philosophische Analysen zur Geistmetaphysik F. M. Dostojevskijs“ (München: Otto Sagner 1988) und N. S. Trubetzkoy: „Dostoevskij als Künstler“ (The Hague: Mouton 1964). Michail Bachtins Behauptung, Dostojewskij habe „polyphone Romane“ geschrieben, wird in ihre Schranken verwiesen. Zu den Höhepunkten des Buches gehört, was Argumentation und suggestive Verbalisierung betrifft, das Kapitel „Der Rebell“ (S. 268-299), worin wir es in der Hauptsache mit Raskolnikow zu tun haben.
Lesenswert sind zwei Publikationen von Christiane Schulz: „Aspekte der Schillerschen Kunsttheorie im Literaturkonzept Dostoevskijs“ (München: Otto Sagner 1992) und „Geschichtsschreibung der Seele. Goethe und das 6. Buch der ‚Brat’ja Karamazovy‘“ (München: Otto Sagner 2006).

1997 erlebt Zenta Maurinas Buch „Dostojewskij. Menschengestalter und Gottsucher“ (zuerst 1952) die 5. unveränderte Auflage (Memmingen: Maximilian Dietrich, mit „Vorwort“ der Autorin, geschrieben in Bad Krotzingen im Januar 1972, „zur zweiten und dritten Auflage“). Von der lettischen Essayistin und Kulturphilosophin auf Deutsch verfasst, gehört diese Darstellung zu den zu Recht am meisten gelesenen Dostojewskij-Monographien des deutschen Sprachraums. Die Verfasserin trennt systematisch das Leben Dostojewskijs (S. 11-157) von der Erörterung der Werke Dostojewskijs, die unter den Stichworten „Menschengestalter“ (S. 161-239) und „Gottsucher. Formerlebnis und Weltanschauung“ (S. 243-316) vorgenommen wird. Ein ausführliches Kapitel über „Dostojewskij und Europa“ (S. 319-383) beschließt die Darstellung mit einem Abschnitt über „Dostojewskij und das russische Schrifttum“ und einem über die „Wechselwirkung Dostojewskijs und Westeuropas“.

1998 schlägt Christoph Garstka eine wichtige, nicht nur verlagsgeschichtliche Bresche ins Unerforschte mit seiner Untersuchung „Arthur Moeller van den Bruck und die erste deutsche Gesamtausgabe der Werke Dostojewskijs im Piper-Verlag 1906-1919. Eine Bestandsaufnahme sämtlicher Vorbemerkungen und Einführungen von Arthur Moeller van den Bruck und Dmitrij S. Mereschkowskij unter Nutzung unveröffentlichter Briefe der Übersetzerin E. K. Rahsin. Mit ausführlicher Bibliographie. Geleitwort von Horst-Jürgen Gerigk“ (Frankfurt am Main: Peter Lang). Zweifellos ist Christoph Garstka der erste, der das Leben der Übersetzerin Elisabeth (= „Less“) Kaerrick (1886-1966), die unter dem Pseudonym E. K. Rahsin berühmt wurde, der slawistischen Öffentlichkeit vorgestellt hat (S. 66-76), mag auch neuerdings G. E. Potapowa für sich in Anspruch nehmen, die erste zu sein, die „dem Leser diese ungewöhnliche Frau“ nahebringe; Christoph Garstka habe nur einen „geringfügigen Ausschnitt“ dargestellt, der sich auf die Dostojewskij-Ausgabe beschränke. Ein ganz und gar unhaltbarer Vorwurf! (G. E. Potapowa: „K istorii vosprijatija Dostoevskogo v Germanii. Iz pisem nemeckoj perevodčitsy Dostoevskogo Less Kerrik“. In: Dostoevskij. Materialy i issledovanija; 19. Sankt-Peterburg: „Nauka“ 2010, S.401).

Ebenfalls 1998 legt Wolfgang Kasack seine knappe und konzise Darstellung „Dostojewski. Leben und Werk“ vor (Frankfurt am Main und Leipzig: Insel Verlag). Mit Zitaten aus Dostojewskijs Briefen, aus seinen literarischen Werken und Wenigem aus anderen Schriften präsentiert der Verfasser eine „Führung durch das Leben eines der größten russischen Schriftsteller,“ so heißt es in der „Vorbemerkung“. Das Resultat sei ein „Dostojewskij-Brevier“, das sich „ebenso an Freunde seines Werks“ richte, „wie an solche, die erstmals etwas von ihm erfahren wollen.“

Das Jahr 1998 beschert uns auch „Fünf Betrachtungen“ von Eugen Drewermann unter dem Titel „Daß auch der Allerniedrigste mein Bruder sei. Dostojewski – Dichter der Menschlichkeit“ (Zürich und Düsseldorf: Walter Verlag , 2. Aufl. Düsseldorf: Patmos 2004). Es überrascht nicht, dass der Verfasser als praktizierender Psychotherapeut und engagierter Kirchenkritiker hier besser predigt als Dostojewskij selbst..

1999 erscheint Karla Hielschers „Dostojewski in Deutschland“ (Frankfurt am Main und Leipzig: Insel Verlag). Dostojewskijs Aufenthalte in Wiesbaden, Bad Homburg, Baden-Baden, Dresden und Bad Ems bilden jeweils ein Kapitel, das mit Auszügen aus seinen Briefen belegt wird und dem immer eine sorgfältige Einleitung der Herausgeberin vorgeschaltet ist.
Ebenfalls 1999 legt Andreas Höschen seine Monographie „Das ‚Dostojewsky‘-Projekt“ vor (Tübingen: Max Niemeyer). Was ein Dostojewskij-Leser von einem solchen Titel erwartet, wird allerdings nicht eingelöst, denn es geht hier um die frühen Schriften von Georg Lukács, genau gesagt, um „Lukács‘ neukantianisches Frühwerk in seinem ideengeschichtlichen Kontext“ (so der Untertitel). Kurzum: ein Werk von Georg Lukács, das ungeschrieben blieb und als „Dostojewskij-Projekt“ immer wieder die Neugier der Literaturdetektive geweckt hat, steht im, Zentrum des Buches, das über Dostojewskij nur punktuelles Wissen aus zweiter und dritter Hand vermittelt.

2000 legt Roland Opitz unter dem Titel „Fedor Dostoevskij: Weltsicht und Werkstruktur“ (Frankfurt am Main: Peter Lang) grundsätzliche Überlegungen zu „Schuld“ und Sühne“, „Der Idiot“ „Die Dämonen“ und „Die Brüder Karamasow“ vor, ergänzt durch zwei Aufsätze, einen über Dostojewskij und Nabokov und einen über Camus‘ Dramatisierung der „Dämonen“.

Ebenfalls 2000 erscheinen von Alfred Rammelmeyer „Aufsätze zur russischen Literatur- und Geistesgeschichte“ , herausgegeben von Reinhard Lauer in Zusammenarbeit mit Alexander Graf und Matthias Rammelmeyer (Wiesbaden: Harrassowitz). Darin insbesondere „Dostoevskij und die Deutschen“ (S. 181-193) und „Dostoevskijs Roman ‚Die Dämonen‘“ (S. 194-206). In Anknüpfung an Alfred Rammelmeyers Erörterung der „Dämonen“ bringt UIrich Steltner 2010 einen Aufsatz über Dostojewskij und Stanislaw Przybyszewski heraus: „,Dämonen‘ und ‚Satanskinder‘: Die Zerstörung der Welt“ (in: Schulbildung und ihre Weiterentwicklung. Gedenkband zum 100. Geburtstag von Alfred Rammelmeyer, herausgegeben von Gerhard Giesemann und Hans Rothe. München: Otto Sagner 2010, S. 375-396).

2001 erscheint die grundlegende, umfangreiche, von Rolf-Dieter Kluge (Tübingen) betreute Dissertation von Malgorzata Swiderska: „Studien zur literaturwissenschaftlichen Imagologie. Das literarische Werk F. M. Dostoevskijs aus imagologischer Sicht mit besonderer Berücksichtigung der Darstellung Polens“ (München: Otto Sagner). Im Ersten Teil erläutert die Verfasserin Theorie und Methode“ der literaturwissenschaftlichen Imagologie (S. 21-132). Im Zweiten Teil werden insgesamt 13 Einzelinterpretationen literarischer Texte Dostoevskijs unternommen (S. 137-436): vom „Roman in neun Briefen“ bis zu den „Brüdern Karamasow“. Dabei wird auch der Reisebericht „Winteraufzeichnungen über Sommereindrücke“ einbezogen. Immer geht es um die Herausarbeitung der Funktion „der polnischen und der anderen fremden Imageme“ in den literarischen Werken Dostoevskijs.

2002 veröffentlicht Gudrun Braunsperger ihre historisch und poetologisch orientierte Untersuchung „Sergej Necaev und Dostoevskijs ‚Dämonen‘. Die Geburt eines Romans aus dem Geist des Terrorismus“ (Frankfurt am Main: Peter Lang), die das vielberedete zeitgenössische „Material“ Dostojewskijs sachgerecht ordnet und bereitstellt.

2003 ediert Michael Wegner eine gut durchdachte Selektion des publizistischen Oeuvres Fjodor Dostojewskijs: „Tagebuch eines Schriftstellers, 1873 und 1876-1881. Eine Auswahl“. Aus dem Russischen von Günther Dalitz und Margrit Bräuer (Berlin: Aufbau Verlag).Die ausführliche Einleitung des Herausgebers (S. 9-46) hat den Titel „Glanz und Elend der Utopie. Gedanken zu Fjodor Dostojewskis ‚Tagebuch eines Schriftstellers‘.“

Ebenfalls 2003 erscheint „Fjodor M;. Dostojewskij“ von Christine Hamel (München: Deutscher Taschenbuch Verlag), worin Leben und Werk problemlos fusioniert und aufgeblättert werden, mit Abbildungen auch der drei großen Lieben Dostojewskijs: Issajewa, Suslowa, Snitkina. Michail Bachtins längst strittiger Begriff des “polyphonen Romans“ erhält einen zustimmenden Exkurs, der separat eingehängt wird (S. 124-123). Im Fließtext wird auf poetologische Erörterungen verzichtet. Es fehlen nicht Hinweise zur Wirkungsgeschichte in Deutschland bis zu Oswald Spenglers „Untergang des Abendlandes“ und Thomas Manns „Betrachtungen eines Unpolitischen.“

2004 präsentiert Klaus Städtke seine Einführung in Leben und Werk Dostojewskijs unter dem Titel „Dostojewskij für Eilige“ (Berlin: Aufbau Verlag). Seine Ausführungen sind genauso flott und eingängig, wie der Titel es verspricht. Von den fünf großen Romanen Dostojewskijs lässt er den „Jüngling“ kurzerhand beiseite. Die äußerst spärliche Bibliographie verweist zu Recht auf Anja Ottos „Der Skandal in Dostoevskijs Poetik“ (Frankfurt am Main: Peter Lang 2000).

Ebenfalls 2004 erscheint von Ulrike Elsäßer-Feist in zweiter Auflage, erweitert und ergänzt, „Zwischen Glaube und Skepsis. Der russische Schriftsteller Fjodor M. Dostojewskij“ (Wuppertal: R. Brockhaus, zuerst 1991 unter dem Titel „Fjodor M. Dostojewskij“ im gleichen Verlag), eine ansprechend geschriebene und mit ausgewogener Bibliographie versehene Einführung in Leben und Werk, die „Anstoß“ sein will „zu erster oder vertiefter Begegnung mit dem Schriftsteller und Christen Dostojewskij“ (S. 15).

2004 erscheint auch von Klaus Schwarzwäller „Gelebtes Leben. Menschen und Menschliches in F. M. Dostojewskijs Romanen“ (Frankfurt am Main: Peter Lang). „Erlebtes Leben“ -- der Titel meint Dostojewskijs Leitbegriff des „lebendigen Lebens“ (zhivaja zhizn‘). Von den acht Kapiteln sind, dem Untertitel zu Trotz, drei den Erzählungen „Aufzeichnungen aus dem Untergrund“, „Die Sanfte“ und „Bobok“ gewidmet; von den übrigen fünf beschäftigen sich drei jeweils mit „Schuld und Sühne“, dem „Idioten“ und den „Brüdern Karamasow“ und zwei mit den „Dämonen“. Auffällig ist der fast durchgängige Verzicht des Verfassers auf die Dostojewskij-Forschung. Es gehe ihm, wie er betont, um die geschilderten Menschen und seine eigene Erfahrung mit ihnen.

2005 erscheint von Reinhard Lauth, dem Dostojewskij-Forscher und Fichte-Kenner, „Dostojewskij. Sein und unser Jahrhundert“ (München: Christian Jerrentrup Verlag), die „zweite, vollständig überarbeitete Auflage“ seines Buches von 1986, das als „Dostojewskij und sein Jahrhundert“ (Bonn: Bouvier) herausgekommen war. Diese Essay-Sammlung gehört zweifellos mit zum Besten, was die deutschsprachige Dostojewskij-Forschung auf diesem Feld zu bieten hat. Roter Faden der passionierten Darstellung ist die Freilegung tradierter Fehlurteile über Dostojewskijs Intentionen. So darf etwa die Weltsicht Schatows in den „Dämonen“ nicht als Dostojewskijs eigene Meinung aufgefasst werden. Ja, Dostojewskij lässt niemals eine fiktionale Gestalt zu seinem Stellvertreter werden. Gleichzeitig aber wird die These Michail Bachtins zurückgewiesen, wonach Dostojewskijs Romane die Stellungnahme ihres Autors zu den veranschaulichten Ideen nicht erkennen lassen. Sie liegt aber nie explizit vor, sondern spricht sich im Schicksal der Gestalten aus. Reinhard Lauth beruft sich hier, höflich, aber bestimmt, auf den Aufsatz René Welleks „Bakhtin’s view of Dostoevsky: ‚Polyphony‘ and ‚Carnivalesque‘“, der 1980 im allerersten Band der Dostoevsky Studies (S. 31-39) erschienen ist. Auf poetologische Analysen lässt sich Reinhard Lauth allerdings nicht ein. Sein Ziel sind ideengeschichtliche Richtigstellungen. Von den insgesamt 12 Essays kreisen fünf um Dostojewskijs „Dämonen“. Der Anhang bringt eine zusätzliche, kirchenhistorisch orientierte Abhandlung „Zur russischen Geschichte“.

2006 erscheint von Raimund Johann Weinczyk „Myŝkin und Christus. Ein fiktives Gespräch mit J. Ratzinger auf der Basis von F. M. Dostoevskijs Roman ‚Idiot‘“ (Heidelberg: Universitätsverlag Winter). Mit ihren 870 Seiten ist diese originelle slawistische Dissertation der Universität Bonn von 2005 die, soweit ich sehe, umfangreichste Monographie über Dostojewskij im deutschen Sprachraum. (Karl Nötzels „Das Leben Dostojewskijs“ von 1925 hat nur 846 Seiten. Außer Konkurrenz natürlich Joseph Franks „Dostoevsky“ auf Englisch in fünf Bänden, 1976 – 2002.) Das Literaturverzeichnis nennt 70 Schriften von Joseph Ratzinger, deren Destillat Raimund Johann Weinczyk dem Christus-Bild Dostojewskijs, wie es sich an der Gestalt des Fürsten Myschkin entwickeln lässt, gegenüber stellt. „Fiktiv“ ist daran, dass Joseph Ratzinger von dieser Gegenüberstellung nichts weiß, weil er vom Verfasser stillschweigend zu seinem Gesprächspartner ernannt wurde. Das ist zwar ein durchaus lohnender, aber auch ein sehr umständlicher Weg, den Fürsten Myschkin zu enträtseln. Zudem wird mit solchen Koordinaten die Poetologie von der Theologie weitgehend, wenn auch nicht ganz, vertilgt. Mit seiner Arbeit will der Verfasser, wie er im Vorwort hervorhebt, den philosophischen Dialog zwischen Jürgen Habermas und Joseph Ratzinger fortsetzen, der 2005 unter dem Titel „Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion“ (ed. Florian Schuller) erschienen ist.

2007 erscheint von Hanna Klessinger „Krisis der Moderne. Georg Trakl im intertextuellen Dialog mit Nietzsche, Dostojewskij, Hölderlin und Novalis“ (Würzburg: Ergon Verlag), worin Trakls „Sonja-Gedichte“ („Verwandlung des Bösen“, „Die Verfluchten“ und „Sonja“) vor der Folie von Fjodor M. Dostojewskijs Roman „Schuld und Sühne“ untersucht werden (S. 59-114).

2008 veröffentlicht Dunja Brötz ihre Arbeit über „Dostojewskis ‚Der Idiot‘ im Spielfilm. Analogien bei Akira Kurosawa, Sasa Gedeon und Wim Wenders“ (Bielefeld: transcript Verlag). Eine Pionierleistung ersten Ranges. Untersucht werden Akira Kurosawas Film „Hakuchi“ von 1951, Sasa Gedeons Film „Navrat idiota“ von 1999 und Wim Wenders Film „The Million Dollar Hotel“ von 2000. Die drei Filmregisseure, ein Japaner, ein Tscheche und ein Deutscher, werden jeweils in dem für sie maßgebenden kulturellen Umfeld vorgestellt. Vorgeschaltet ist eine Analyse von Dostojewskijs Roman, der auf seine filmische Ergiebigkeit, seine zeitliche Struktur und seine Schauplätze untersucht wird, in Zuspitzung auf den Fürsten Myschkin und dessen Rückbindung an die Gestalt des „Gottesnarren“ (jurodivyj). Die Monographie ist ein wesentlicher Beitrag zur Filmwissenschaft wie auch zur Dostojewskij-Forschung. Die Bibliographie liefert auch eine „Chronologische Liste“ der Verfilmungen von Dostojewskis „Idiot“: insgesamt siebzehn.

2009 erscheint überraschend und willkommen eine Edition von Rainer Grübel: „Wassili Rosanow: Dostojewskis Legende vom Großinquisitor. Versuch eines kritischen Kommentars (mit zwei Vorwörtern, einem Nachwort, fünf Beilagen und zwei Etüden ‚Über Gogol‘). Herausgegeben und mit einer Vorbemerkung sowie einem Nachwort versehen von Rainer Grübel. Aus dem Russischen von Rainer und Waltraut Grübel, Sünna Looschen und Alexandra Ramm“ (Oldenburg: BIS-Verlag der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg). Mit umfassender Bibliographie (S. 412-446). Das exzellente Nachwort von Rainer Grübel, ein eigenständiger Forschungsbeitrag, trägt den Titel „Von großen Sündern und von Großinquisitoren: Rosanows Kommentar und die Rezeption der erzählten Parabel“ (S. 233-411).

Ebenfalls 2009 erscheint von Marina Kogut „Dostoevskij auf Deutsch. Vergleichende Analyse fünf deutscher Übersetzungen des Romans ‚Besy‘. Im Anhang Interviews der Autorin mit Swetlana Geier und Egon Ammann“ (Frankfurt am Main: Peter Lang). Verglichen werden die Übersetzungen von Hubert Putzer, E. K. Rahsin, Waldemar Jollos, Günter Dalitz und Swetlana Geier, deren Prinzipien des Übersetzens zudem in einem Interview vom 4. Februar 2000 (S. 266-274) eigens erörtert werden. Die Arbeit liefert nicht nur eine Einführung in die Theorie der literarischen Übersetzung, sondern darüber hinaus eine Einführung in den zur Debatte stehenden Roman Dostojewskijs als „Herausforderung“ an die Übersetzer (S. 53-79). Übersetzungsgeschichte wird als Geschichte der Dostojewskij-Rezeption in Deutschland dargestellt (S. 205-225). Der Verfasserin ist zweifellos ein wesentlicher Beitrag zur Dostojewskij-Forschung gelungen, und das in einer ungewöhnlichen, auf besondere Weise „textnahen“ Perspektive.

Nach seiner Arbeit über Dostojewskijs „Jüngling“ von 1965 veröffentlicht Horst-Jürgen Gerigk erst 1991 wieder eine Monographie, die sich mit Dostojewskij beschäftigt: „Die Sache der Dichtung, dargestellt an Hölderlins ‚Abendphantasie‘, Shakespeares ‚Hamlet‘ und Dostojewskijs ‚Schuld und Sühne‘“ (Hürtgenwald: Guido Pressler Verlag). Darin wird eine neue Methode der literaturwissenschaftlichen Analyse auf „Schuld und Sühne“ angewendet, indem die „Situation“ der Hauptgestalt, die Einbettung dieser Situation in ein ganz bestimmtes „Menschenbild“, die „Realitätsebene“ und der „Anblick“, den der Roman als kalkulierte Komposition des Autors bietet, im Detail erläutert werden.

1995 behandelt Horst-Jürgen Gerigk in seiner umfangreichen Einfluss-Studie „Die Russen in Amerika. Dostojewskij, Tolstoj, Turgenjew und Tschechow in ihrer Bedeutung für die Literatur der USA“ (Hürtgenwald: Guido Pressler Verlag) im Ersten Kapitel des Ersten Teils auf über hundert Seiten (S. 103 – 239) unter der Überschrift „Der Mord als Faszinosum“ die Bedeutung Dostojewskijs für T. S. Eliot, Theodore Dreiser, James M. Cain, Richard Wright, James Harold Wallis, Charles Jackson, Meyer Levin, William Faulkner, Woody Allen, Truman Capote, unter Einschluss des parodistischen Bühnenstücks „The Idiots Karamazov“ von Christopher Durang und Albert Innaurato. Im Zweiten Teil des Buches geht es nicht mehr um Mord, und es werden Dostojewskij-Echos bei Ernest Hemingway, Thomas Wolfe, Henry Miller, Nelson Algren, Ralph Ellison und Kurt Vonnegut erläutert.

2000 erscheint von Horst-Jürgen Gerigk: „Dostojewskij, ‚der ‚vertrackte Russe.‘ Die Geschichte seiner Wirkung im deutschen Sprachraum vom Fin de Siecle bis heute“ (Tübingen: Attempto Verlag), worin der Verfasser auch seinen Forschungsbericht von 1972, „Notes Concerning Dostoevskii Research in the German Language after 1945“ (in: Canadian-American Slavic Studies, Vol. 6, No. 2, Summer 1972, S. 272-285) integriert hat. „Dostojewskij, der ‚vertrackte Russe‘“ behandelt vor allem auch die Reaktion deutschsprachiger Schriftsteller auf Dostojewskij (Hermann Hesse, Stefan Zweig, Thomas Mann, Alfred Döblin, Hugo von Hofmannsthal, Franz Kafka, Frank Thiess, Ingeborg Bachmann) sowie die Dostojewskij-Rezeption in Film, Fernsehen, Drama, Oper und Ballett. Besonders hervorgehoben werden, was die bildende Kunst betrifft, die Ausstellungskataloge „Dostojewskij im deutschen Expressionismus. Wilfried Otto: Die Raskolnikoff-Mappe von 1921“ (Würzburg: Martin von Wagner Museum der Universität Würzburg 1998) und „,Dostojewski ist mein Freund‘ (Max Beckmann, Herbst 1914): Graphiken, Gemälde und Buchillustrationen zu Dostojewskij in der deutschen Kunst zwischen 1900 und 1950“ (Altenburg: Lindenau-Museum 1999). Als Ergänzung seien an dieser Stelle Ulrich Schmids Aufsatz „Die Dostojewskij-Rezeption im deutschen Nationalsozialismus“ genannt (in: Jahrbuch der Deutschen Dostojewskij-Gesellschaft, 14, 2007, S.47-58) sowie „Zur Rezeption der Werke Dostojewskijs in Deutschland 1945-1949“ von Gudrun Goes (ebenda, S. 59-70).

2008 veröffentlicht Horst-Jürgen Gerigk zusammen mit Rudolf Neuhäuser das Buch „Dostojewskij im Kreuzverhör. Ein Klassiker der Weltliteratur oder Ideologe des neuen Rußland?“ (Heidelberg: Mattes Verlag). Das Buch enthält zwei Abhandlungen: „Was ist ein Klassiker? Dostojewskijs internationale Wirkung in systematischer Perspektive“ von Horst-Jürgen Gerigk (S. 1-45) und „F. M. Dostojewskij. Eine Studie zur russischen Mentalität einst und heute. Historische Wurzeln und Interpretationen“ von Rudolf Neuhäuser (S. 47-113). Beide Abhandlungen kritisieren bestimmte Tendenzen der Dostojewskij-Forschung als sachfremde Instrumentalisierungen des russischen Klassikers.

2010 erscheint von Horst-Jürgen Gerigk „Ein Meister aus Russland. Beziehungsfelder der Wirkung Dostojewskijs. Vierzehn Essays“ (Heidelberg: Universitätsverlag Winter). Darin wird Dostojewskij in Beziehung gesetzt zu Turgenjew, Heidegger, Schiller, Flaubert, Sylvia Plath, James Joyce, Gerhart Hauptmann, Jerome D. Salinger, aber auch zu Machiavelli, dessen Systematisierung des Willens zur Macht und ihrer Erhaltung in seiner Schrift „Der Fürst“ für den politischen Bereich genau das geltend macht, was Dostojewskij mit seinen fünf großen Romanen für den poetischen Bereich praktiziert hat: den Leser zu zwingen, mit dem Lesen nicht aufzuhören. Der Wille zur Macht als Kunst. Dostojewskijs Poetik ist deshalb eine „machiavellistische Poetik“ zu nennen. Sie besteht aus sieben Faktoren. Diese sieben Faktoren sind: Verbrechen, Krankheit, Sexualität, Politik, Religion, Komik und eine maliziöse Erzähltechnik, mit der dem Leser immer gleichzeitig etwas gezeigt und etwas vorenthalten wird.

2011 erscheint von Stefania Torri „Dostojewskij in der deutschen und italienischen Literatur. Eine komparative Studie (1881-1927)“ (München und Berlin: Otto Sagner). Begrüßenswert detailliert und ungewöhnlich einfühlsam präsentiert die Verfasserin einen Forschungsbericht, dem es um die Aufdeckung der jeweiligen geistigen Situation der Zeit zu tun ist, auf deren Hintergrund die Dostojewskij-Rezeption im behandelten Zeitraum ihr inhaltliches und methodisches Gepräge erhalten hat: Rezeptionsgeschichte wird hier zum Beleg für Kulturgeschichte mit Dostojewskij als Hauptperson.

Anfang 2012 erschien von Maike Schult die Monographie „Im Banne des Poeten. Die theologische Dostoevskij-Rezeption und ihr Literaturverständnis“ (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht; 502 Seiten; slawistische Dissertation 2008 bei der Philosophischen Fakultät II der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg), eine historische und systematische Darstellung des „theologischen“ Umgangs mit Leben und Werk Dostojewskijs im deutschen Sprachraum von den Anfängen im 19. Jahrhundert bis heute. Der ausführliche Anhang (S. 393-461) bringt in alphabetischer Reihenfolge „Biogramme mit bibliographischen Angaben“: ein hilfreiches Lexikon der „protestantischen Interpreten“ (es sind 54), der „katholischen Interpreten“ (insgesamt 27) und „anderer Interpreten“ (genau 30), die sich an Dostojewskijs Spiritualität orientiert haben. Dieser Anhang mit seinen 111 Einträgen wird weiteren Forschungen eine willkommene Grundlage sein. Voraus geht der Hauptteil, der die theologische Rezeption in ihren verschiedenen Stadien veranschaulicht, mit Dostojewskijs als „Mythologem“, als „Theologem“, als „Ideologem“ und als „Lebenshilfe“.  Diese verschiedenen Lesarten münden erst spät in eine Betrachtung des Künstlers Dostojewskij, dem das Christentum zum Material wird. Im letzten Kapitel werden konsequenterweise all diese theologischen Zugänge im „Banne des Poeten“ diskutiert, und es schließt sich der Kreis, der mit der Einleitung zum Forschungsstand begonnen wurde. Der Verfasserin ist zweifellos ein herausragender Forschungsbeitrag gelungen.

Wenden wir uns nun den ausgewählten Sammelbänden im Detail zu, die sich mit Dostojewskij beschäftigen. Sieben seien herausgestellt: (I.) „Dostojevskij und die Literatur. Vorträge zum 100. Todesjahrs des Dichters auf der 3. internationalen Tagung des ,Slavenkomitees‘ in München, 12. – 14. Oktober 1981“, herausgegeben von Hans Rothe (Köln, Wien: Böhlau Verlag 1983), (II.) „Dostojewskij und die russische Literatur in Österreich seit der Jahrhundertwende (Literatur, Theater)“, herausgegeben von Aleksandr W. Belobratow und Alexej I. Žerebin (St. Petersburg: Verlag FANTAKT 1994), (III.) „,Die Brüder Karamasow‘ Dostojewskijs letzter Roman in heutiger Sicht. Elf Vorträge des IX. Symposiums der Internationalen Dostojewskij-Gesellschaft, Gaming, Niederösterreich, 30. Juli - 6. August 1995,“ mit einem Vorwort und einer Bibliographie herausgegeben von Horst-Jürgen Gerigk (Dresden: Dresden University Press 1997), (IV.) „F. M. Dostojewski. Dichter, Denker, Visionär“, herausgegeben von Heinz Setzer, Ludolf Müller und Rolf-Dieter Kluge (Tübingen: Attempto 1998), (V.) „Polyfunktion und Metaparodie. Aufsätze zum 175. Geburtstag F. M. Dostojevskijs“, herausgegeben von Rudolf Neuhäuser (Dresden: Dresden University Press 1998), (VI.) „Das Prophetische in Dostojewskijs ‚Dämonen‘“, im Auftrag des Deutsch-Russischen Kulturinstituts herausgegeben von Olga Grossmann und Roland Opitz (Weimar: VDG 1998) und (VII.) „Dostojewskijs Romane“, herausgegeben von Birgit Harreß (Stuttgart: Philipp Reclam 2005).

Was „Dostojevskij und die Literatur“ betrifft, so liegen von den 26 Beiträgen 16 auf Deutsch vor. Vier davon stammen von Verfassern, die nicht im deutschen Sprachraum lehren (Victor Terras, René Wellek, Dominique Iehl, Carl Stief). Die übrigen 12 lassen das ganze Spektrum „hiesiger“ Interessenahmen erkennen. „Zwei neutestamentliche Hauptmotive der ‚Legende vom Großinquisitor‘ von F. M. Dostojevskij“ (Alfred Rammelmeyer), „Dostoevskij und Charles Nodier“ (Wilfried Potthoff), „Volksreligiöse Motive bei Dostoevskij“ (Wilhelm Lettenbauer), „Zur Funktion von literarischen Quellen und Modellen in Dostoevskijs literarischen Texten (1846-65)“ (Rudolf Neuhäuser), „Funktion und Motivation von ‚voploscenie‘ im Werk Dostoevskijs“ (Konrad Onasch), „Die Tiefenstruktur des Traums in Dostoevskijs Werk und ihre Bedeutung für den Bewußtwerdungsprozeß des Menschen“ (Natalie Reber), „Dostoevskijs Gedichte und die Literatur“ (Dietrich Gerhardt), „Masaryk und Dostojevskij“ (Antonin Mestan), „Fjodor Dostojewski – und kein Ende. Zur Rezeption Dostojewskis in der neueren europäischen Romanliteratur des 20. Jahrhunderts“ (Michael Wegner), „Einige Notizen über Dostojewskij im Werk Thomas Manns“ (Gerd Wolandt), „Zur Nachwirkung Dostoevskijs in der englischen Kritik und Literatur an der Jahrhundertwende“ (Erwin Wedel), „Faulkners ,Sanctuary‘ und Dostojewskijs ‚Schuld und Sühne’: Wunscherfüllung als Tabubrechung“ (Horst-Jürgen Gerigk).

Im Sammelband „Dostojewskij und die russische Literatur in Österreich“ stammen von den insgesamt 17 Beiträgern fünf aus Österreich: „Dostojewskijs und Tolstojs Einfluss auf Franz Werfels Schaffen“ (Karlheinz F. Auckenthaler ), „Dialog mit Fürst Myschkin. Russische Literatur bei Ingeborg Bachmann“ (Konstanze Fliedl), „Dostojewskij und Kafka“ (Joseph P. Strelka), „Dostojewskijs ‚Dämonen‘ und Musils ‚Mann ohne Eigenschaften‘“ (Josef Strutz).

Was „Die Brüder Karamasow. Dostojewskijs letzter Roman in heutiger Sicht“ betrifft, so liegen von den 11 Beiträgen zwei auf Russisch vor (Georgij M. Fridlender, Vladimir N. Zahkharov), sechs auf Englisch (Malcolm V. Jones, William Mills Todd III, Boris Christa, Victor Terras, Nathan Rosen, Robert L. Belknap) und drei auf Deutsch: „Die Architektonik der Brüder Karamasow“ (Horst-Jürgen Gerigk), „Einige Bemerkungen zu Hermann Hesses Deutung der ‚Brüder Karamasow‘“ (Michel Cadot) und „Dostojewskijs Weg zu seinem ‚Großinquisitor‘“ (Hans Rothe).

Der Sammelband „Dostojewski. Dichter, Denker, Visionär“ enthält 13 Artikel, alle auf Deutsch: „Dostojewskij – ein Leben als Roman“ (Ludolf Müller), F. M. Dostojewskis Roman „Schuld und Sühne‘ oder ‚Verbrechen und Strafe – eine Einführung“ (Dietrich Wörn), „Alles oder nichts. Die Gestalt des ‚Spielers‘ in den Romanen Dostojewskis“ (Regine Nohejl), „Die ‚Dämonen‘ der Revolution“ (Rolf-Dieter Kluge), „Der ,Idiot‘ – ein moderner Christus?“ (Malgorzata Swiderska), „Das Leben ist mehr als der Sinn des Lebens: ‚Die Brüder Karamasow‘“ (Rolf-Dieter Kluge), „Die Religion Dostojewskijs“ (Ludolf Müller), „Steiners Tolstoi, Bachtins Dostojewski“ (Jürgen Wertheimer), „Vom ‚grausamen Talent‘ zum ‚Visionär‘“ (Heinz Setzer), „Dostojewski in Rußland heute“ (Alexander Krinicyn), „Dostojewskij und Deutschland“ (Ludolf Müller), „Dostojewski und der Existenzialismus. Überlegungen zu der Rezeption Dostojewskis im Werk von Albert Camus“ (Kurt Kloocke), „Zwischen Liebe und Haß – Dostojewski und Rußlands slawische Nachbarn““ (Oskar Obracaj).

„Polyfunktion und Metaparodie“ enthält nach der „Einführung“ (Rudolf Neuhäuser) insgesamt 12 Beiträge, davon vier auf Englisch (Richard Peace, Joe Andrew, Slobodanka Vladiv-Glover, Irene Zohrab), die übrigen acht auf Deutsch: „‘Einfach und ‚kompliziert‘ bei Dostojevskij“ (Andreas Guski), „Modernekritik und Kriminalroman (am Beispiel von ‚Schuld und Sühne‘)“ (Christoph Veldhues), „Vom redenden zum schweigenden Christus. Die Wirkung von Jean Pauls ‚Rede des todten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei‘ auf das Werk Dostojevskijs, insbesondere auf das Poem vom Großinquisitor“ (Istvan Molnar), „Paradoxie der Fiktion und Sprache der Erinnerung“ (Christiane Schulz), „Das kompositionelle Grundmuster der Romane“ (Roland Opitz), „,Plötzlichkeit‘ in Dostojevskijs ‚Dämonen’“ (Andreas Leitner), „Die äquivalenzgesteuerte Dramaturgie des Festes in den ‚Dämonen‘ (Besy)“ (Matthias Freise), „Dostojevskijs antiwestliche Zivilisationskritik und die deutsche Konservative Revolution“ (Karla Hielscher).

Der Sammelband „Das Prophetische in Dostojewskijs ‚Dämonen‘“ enthält neben Beiträgen aus den USA und Russland (R. L. Jackson, I. Volgin, V. Sakhharov, I. Vinogradov, N. V. Panshev, G. Dawidow) die folgenden Beiträge von deutschen Dostojewskij-Forschern: „Die aktuelle Bedeutung Dostojewskijs für Europa am Ende des 20. Jahrhunderts“ (Ludolf Müller), „Die Herausbildung des Gestaltensystems in Dostojewskijs schwierigstem Buch“ (Roland Opitz), „Sergej Netschajew oder Macht im Dienste der Revolution“ (Gudrun Braunsperger), „Dostojewskij und Mickiewicz: ‚Die Dämonen‘ und ‚Die Ahnenfeier‘“ (Matthias Freise); „Dostojewskij und Schatow“ (Ludolf Müller), „Wer sind die ‚Dämonen‘ heute? Zur aktuellen Instrumentalisierung von Dostojewskijs Roman“ (Karla Hielscher), „Fjodor Dostojewskijs ‚russische Idee‘ und sein Roman ‚Die Dämonen‘“ (Michael Wegner), „Dostojewskij in Dresden“ (Erhard Hexelschneider) sowie eine Notiz „Zur Geburt von Dostojewskijs Tochter Ljubow in Dresden“.

Der kleine Band „Dostojewskijs Romane“ enthält zu jedem der großen Fünf einen Beitrag: „Schuld und Sühne“ (Birgit Harreß), „Der Idiot“ (Birgit Harreß), „Die Dämonen“ (Maike Schult), „Der Jüngling“ (Horst-Jürgen Gerigk), „Die Brüder Karamasow“ (Birgit Harreß).

Welche Tendenzen der Dostojewskij-Rezeption lassen sich nun aufgrund des vorliegenden thematischen Panoramas deutschsprachiger Einzelforschung feststellen? Auszugehen ist von den drei Problemfeldern Autor – Werk – Leser, die jeweils Aufgabenfelder sind. Für den Autor ist die Schaffenspsychologie zuständig, für das Werk die Poetologie und für den Leser die Rezeptionspsychologie. Die Schaffenspsychologie hat es mit dem Leben des Autors zu tun, sie klärt, unter welchen Umständen der Autor an sein Thema gekommen ist und es ins Werk gesetzt hat. Die Poetologie hat es mit dem Kunstergebnis zu tun, das als verstandene Welt unseren Nachvollzug fordert und sich dabei als Komposition des Autors zum Anblick bringt. Die Rezeptionspsychologie hat es mit den geschichtlichen Vorurteilen des Lesers zu tun, seinen Vorlieben und Abneigungen, die ihn dazu bringen, einen literarischen Text bejahend oder verneinend zu betrachten. Die poetologische Analyse eines literarischen Textes ist offensichtlich das Schwierigste. Ihre Aufgabe ist die poetologische Rekonstruktion des Textes. Deshalb weichen die meisten Dostojewskij-Forscher einer solchen Analyse aus und lassen den literarischen Text nur reduktionistisch zu Wort kommen, in der Perspektive ihrer vorauseilenden Fragestellung.

Kurzum: Ausführliche Werkanalysen unter programmatischem Verzicht auf jeden Rückbezug auf das Leben Dostojewskijs sind selten. Zu nennen sind Wolf Schmid (1973), Horst-Jürgen Gerigk (1965 und 1991) sowie Rudolf Neuhäusers Analyse der Erzählung „Die Sanfte“ in Bodo Zelinskys Sammelband „Die russische Novelle“ (Düsseldorf: Schwann-Bagel 1982, S.73-83). In seiner besonders hervorzuhebenden Analyse von Dostojewskijs „Schuld und Sühne“ (in: Der russische Roman, herausgegeben von Bodo Zelinsky, Düsseldorf: Bagel 1979, S. 161-187) betont Rudolf Neuhäuser: „Dostojewskijs Werke sind autobiographisch“ (S. 163). Johannes Holthusens Erläuterungen der „Prinzipien der Komposition und des Erzählens bei Dostojevskij“ kommen ohne einen Rückbezug auf das Leben des Autors aus (1969). Holthusens Fragestellung lässt jedoch nur Werkanalysen zu, die nicht umfassend ins Detail gehen, weil sie aus den Werkstattnotizen zur Entstehungsgeschichte ihre Legitimität beziehen und diese Orientierung nicht verlassen. Die poetologische Rekonstruktion eines literarischen Textes ist in solcher Sicht nicht das Ziel. Und doch kommt es auch in den Darstellungen von Dostojewskijs Oeuvre, wie sie Frank Thiess (1971), Maximilian Braun (1976). Rudolf Neuhäuser (1979 und 1993), Ludolf Müller (1982) und Geir Kjetsaa (1988, zuerst Oslo 1985) vorgelegt haben, immer wieder zu ausführlichen poetologische Analysen einzelner Texte, wenn auch der Rückbezug auf das Leben Dostojewskijs, grundsätzlich gesehen, nie ganz ausgeschlossen wird. Leben und Werk bilden für diese soeben genannten fünf Autoren auf jeweils verschiedener methodischer Fundierung eine selbstverständliche Einheit, die als solche nicht in Frage gestellt wird. Birgit Harreß ist mit ihrer Dostojewskij-Monographie (1993) einen ähnlichen, aber eigenen Weg gegangen. Ohne auf das Leben Dostojewskijs im Detail einzugehen, sieht sie in seinem literarischen Werk einen Lebensentwurf verwirklicht, dessen gedankliche Kohärenz und konsequente Entwicklung auf ein Ziel hin wie ein Gebäude sichtbar werden soll.

Es mag in diesem Zusammenhang nicht überflüssig sein, darauf hinzuweisen, dass Dietrich Gerhardt, Ludolf Müller und Horst-Jürgen Gerigk Schüler Dmitrij Tschižewskijs sind, der 1956 aus den USA (Harvard University) nach Deutschland zurückkehrte und lange Jahre als Direktor des Slavischen Instituts der Universität Heidelberg tätig war. Er starb 1977 im Alter von 83 Jahren in Heidelberg. Seinen Studenten vermittelte er die Achtung vor dem einzelnen literarischen Kunstwerk, ohne dabei den großen geistesgeschichtlichen Kontext aus den Augen zu verlieren. Diese Maximen haben, wie man sieht, in seinen Schülern durchaus Schule gemacht, wenn auch in jeweils unterschiedlicher Ausrichtung. (Dietrich Gerhardt war bereits 1941 mit seiner Dissertation „Gogol und Dostojewskij in ihrem künstlerischen Verhältnis“ hervorgetreten.)

Es fällt auf, dass in der deutschsprachigen Dostojewskij-Forschung nach 1971 keine Monographie zum umfangreichen publizistischen Oeuvre Dostojewskijs zu verzeichnen ist. Die letzte wurde 1951 von Josef Bohatec veröffentlicht, unter dem Titel „Der Imperialismusgedanke und die Lebensphilosophie Dostojewskijs. Ein Beitrag zur Kenntnis des russischen Menschen“ (Graz und Köln: Böhlau). So kann also lediglich auf Michael Wegners Einführung in seine Edition des „Tagebuchs eines Schriftstellers“ (2003) verwiesen werden. Ergänzend sei angemerkt, dass 1992 Fjodor M. Dostojewskis „Tagebuch eines Schriftstellers. Notierte Gedanken“, aus dem Russischen von E. K. Rahsin, mit einem deutschen „Nachwort“ (S. 643-665) von Aleksandar Flaker erschienen ist (München und Zürich: Piper).

Karla Hielscher (1999) ist die einzige, die Dostojewskijs Briefe systematisch arrangiert hat, um so seine Aufenthalte in Deutschland mit seinen eigenen Worten zu dokumentieren. Es würde sich anbieten, eine Dostojewskij-Biographie zu entwerfen, die zentral aus seinen ungekürzt präsentierten Briefen bestünde, von denen insgesamt über 925 vorliegen, so dass eine Auswahl nötig wäre.
Nur wenige Arbeiten behandeln literarische Einflüsse auf Dostojewskij: Reber (1964), Potthoff (1983), Schulz (1992 und 2006), Neuhäuser (1993), Gerigk (2010).

Zur Dostojewskij-Rezeption aber liegen eine ganze Reihe von Arbeiten vor: Wegner (1983) Mestan (1983), Wolandt (1983), Wedel (1983), Hielscher (1987), Klessmann (1990), Auckenthaler (1994), Fliedl (1994), Strelka (1994), Strutz (1994), Cadot (1997), Kloocke (1998), Gerigk (1995, 2000 und 2010), Klessinger (2007), Brötz (2008), Steltner (2010), Torri (2010).

Einzeluntersuchungen konzentrieren sich auf jeweils einen der fünf großen Romane: „Verbrechen und Strafe / Schuld und Sühne“ (Heim 1978, Neuhäuser 1979, Gerigk 1991,Wörn 1998, Veldhues 1998, Harreß 2005, Weinczyk 2006), „Der Idiot“ (Schultze 1974, Beer 1978, Schwarz / Heckert / Pollach 1978, Swiderska (1998), Harreß 2005). „Die Dämonen“ (Müller-Lauter 1974, Hielscher 1987, Kluge 1998, Leitner 1998, Freise 1998, Müller 1998, Opitz 1998, Wegner 1998, Braunsperger 1998 und 2002, Schult 2005, Kogut 2009), „Der Jüngling“ (Gerigk 1965, Dieterich 1984, Gerigk 2005), „Die Brüder Karamasow“ (Rammelmeyer 1983, Müller 1985, Dudek 1985, Wanner 1988, Reber 1990, Gerigk 1995 und 1997, Cadot 1997, Rothe 1997, Kluge 1998, Molnar 1998, Harreß 2005, Schulz 2006, Grübel 2009). Offensichtlich besitzen die „Brüder Karamasow“ eine geradezu magische Anziehungskraft. Und das ist kein Zufall.

 

 

Zweiter Teil
Aufsätze

 

Im August 1971 wurde in Bad Ems (Westdeutschland) die Internationale Dostojewskij-Gesellschaft gegründet, anlässlich des 150. Geburtstags des Meisters aus Russland. Und im Mai 1990 wurde in Satrup (Landhaus „Klein Rüde“) bei Flensburg die Deutsche Dostojewskij-Gesellschaft gegründet – auf Initiative von Ellen Lackner, die auch deren erste, langjährige und verdienstvolle Vorsitzende war. Noch im gleichen Jahr fand an Dostojewskijs Geburtstag, dem 11. November, auf Schloss Gottorf, Schleswig, die erste öffentliche Tagung statt. Aus beiden Gründungen ist jeweils ein Jahrbuch hervorgegangen, das noch heute pünktlich erscheint und mit seinen Artikeln kontinuierlich die laufende Dostojewskij-Forschung veranschaulicht. Dass ich sowohl 1971 in Bad Ems als auch 1990 auf Schloss Gottorf mit einem Vortrag dabei war, wird den Leser nicht überraschen. In Bad Ems habe ich über „Dostojewskijs Selbstverständnis als hermeneutisches Problem“ gesprochen, und auf Schloss Gottorf lautete mein Thema „Dostojewskij und die Kriminologie, dargestellt an seinem Roman ‚Schuld und Sühne‘“. Der erste Vortrag erschien in der Zeitschrift „Russian Literature“, 4 (The Hague, Paris: Mouton 1973), S. 114-127, der zweite (diesmal war es ein Festvortrag) im ersten „Jahrbuch der Deutschen Dostojewskij-Gesellschaft“, (Flensburg 1992, S. 11-20). Den zweiten Festvortrag auf Schloss Gottorf hielt Dietrich von Engelhardt über das Thema „Krankheit und Heilkunst bei Dostojewskij. Die ‚heilige Krankheit‘ des ‚Idioten‘“, veröffentlicht im gleichen Jahrbuch (S,.21-31), das auch die Grußworte Rudolf Neuhäusers vermerkt (S.110), die dieser als damaliger Präsident der Internationalen Dostojewskij-Gesellschaft überbracht hat. In Bad Ems (1971) sprachen Rudolf Neuhäuser auf Englisch über „Social Reality and the Hero in Dostoevsky’s Early Works: Dostoevskij and Fourier’s Psychological System,“ Reinhard Lauth über „Friedrich Heinrich Jacobis ‚Allwill‘ und Fedor Michajlovič Dostoevskijs ‚Dämonen‘“ und Wolf Schmid über „Die Interferenz von Erzählertext und Personentext als Faktor ästhetischer Wirksamkeit in Dostoevskijs ‚Doppelgänger,‘“ all dies veröffentlicht in der soeben genannten Nr. 4 (1973) der Zeitschrift „Russian Literature“, neben den durchgehend englischen Beiträgen von Jan M. Meijer, Jean Weisgerber, Nils Ake Nilsson, Robert Louis Jackson, wodurch diese „Special issue dedicated to Fedor Michajlovič Dostoevskij“ einen geradezu dokumentarischen Wert bekommen hat: Das Beste aus Bad Ems.

Das Selbstverständnis der Deutschen Dostojewskij-Gesellschaft orientiert sich an der Aufgabe, „die Kenntnis Dostojewskijs in Deutschland zu verbreiten“ sowie „Anregungen und Impulse der wissenschaftlichen Dostojewskij-Forschung aufzugreifen und an ein allgemein interessiertes Publikum zu vermitteln“ (so ist es auf der entsprechenden Homepage zu lesen). Die Internationale Dostojewskij-Gesellschaft hingegen richtet sich mit ihren Symposien ausschließlich an Fachleute, ihr Ziel ist es „to provide a general forum for Dostoevsky scholars of all nations.“ Die Vorträge setzen hier eine akademische Zielgruppe voraus, die auf den neuesten Forschungsstand reagiert. In concreto bedeutet das: Themenwahl und Darlegungsart sind in den Beiträgen des „Jahrbuchs“ auf den literaturwissenschaftlichen Laien ausgerichtet, was für die „Dostoevsky Studies“ nicht gilt. Anders ausgedrückt: Ein und derselbe Autor wird auf einer Tagung der Deutschen Dostojewskij-Gesellschaft anders vortragen als auf einem Symposium der Internationalen Dostojewskij-Gesellschaft, wo es nicht mehr um „Basiswissen“ geht. Der „gesellschaftliche“ Auftrag ist jeweils ein anderer.

Was die deutschsprachige Dostojewskij-Forschung anbelangt, so waren 1971 in Bad Ems als Gründungsmitglieder zugegen: Rudolf Neuhäuser, Reinhard Lauth, Wolf Schmid und Horst-Jürgen Gerigk. Die Gründung fand auf Initiative von Dmitrij Grishin und einem internationalen Organisationskomitee statt, dem Nadine Natov, Rudolf Neuhäuser und Reinhard Lauth angehörten. Von der Vollversammlung wurde festgelegt, dass sich die Mitglieder der Internationalen Dostojewskij-Gesellschaft alle drei Jahre an jeweils einem anderen Ort zu einem Symposium treffen werden. Auf Bad Ems folgten: 1974 St. Wolfgang (Österreich), 1977 Rungstedgaard (Dänemark), 1980 Bergamo (Italien), 1983 Cerisy-la-Salle (Frankreich), 1986 Nottingham (England), 1989 Ljubljana (Slowenien), 1992 Oslo (Norwegen), 1995 Gaming (Österreich), 1998 New York (USA), 2001 Baden-Baden (Deutschland), 2004 Genf (Schweiz), 2007 Budapest (Ungarn), 2010 Neapel (Italien). Mit diesen regelmäßigen Symposien der Internationalen Dostojewskij-Gesellschaft wurde die einmalige und dauerhafte Gelegenheit eines Gedankenaustausches mit Fachkolleginnen und Fachkollegen aus aller Welt geschaffen: von Tokio bis Chicago, von Tromsö bis Bergamo und, nicht zuletzt, mit den russischen Dostojewskij-Experten. Kurzum: die deutschsprachige Dostojewskij-Forschung findet hier von Anfang an ein internationales Echo und lässt sich gleichzeitig von Fragestellungen aus anderen Kulturräumen inspirieren.

Die Amtszeit des „Präsidenten“ der Internationalen Dostojewskij-Gesellschaft beträgt jeweils sechs Jahre oder drei Jahre. Von den deutschsprachigen Kollegen war Rudolf Neuhäuser (Österreich) von 1989 bis 1995 Präsident, Horst-Jürgen Gerigk (Deutschland) von 1998 bis 2004, und Ulrich Schmid (Schweiz) von 2004 bis 2007. Eine vollständige Auflistung liefert Horst-Jürgen Gerigk: „Die Präsidenten der Internationalen Dostojewskij-Gesellschaft 1971 – 2006. Amtszeit und Festschriften“ (Dostoevsky Studies. New Series, 10, 2006, S. 262-263).

Das Publikationsorgan der Internationalen Dostojewskij - Gesellschaft sind die Dostoevsky Studies. Jedes Heft enthält maximal an die zehn Aufsätze, eine laufende Bibliographie der Internationalen Dostojewskij-Forschung, Buchrezensionen und, soweit gegeben, Nachrufe und News of the Profession. Von 1980 bis 1989 erschienen neun Bände, hervorgegangen sind sie aus dem „Bulletin of the International Dostoevsky Society“, das von 1972 bis 1979 neunmal erschienen ist, ebenfalls herausgegeben von Rudolf Neuhäuser im Auftrag der Internationalen Dostojewskij-Gesellschaft. Seit 1993 sind die Dostoevsky Studies in gleicher Funktion als „New Series“ weitergeführt worden, mit neu beginnender Zählung. Noch in diesem Jahr wird Band 15 (2011) herauskommen (Tübingen: Attempto Verlag). Zulässige Sprachen für die Publikation eines Beitrags in den Dostoevsky Studies sind Englisch, Deutsch, Russisch und Französisch. Manche Beiträger mit Deutsch als Muttersprache publizieren aber lieber auf Englisch, um sich eine größere Leserschaft zu sichern.

Werfen wir in unserem Zusammenhang einen Blick auf die Themen der deutschsprachigen Beiträge in den Dostoevsky Studies. The Journal of the International Dostoevsky Society. Begonnen sei mit Ulrich Schmid, der bislang fünf Beiträge in den Dostoevsky Studies. New Series veröffentlicht hat: „Rogoshins Hochzeitsnacht: Figurale Spaltung als künstlerisches Verfahren“ (3, 1999, S. 5-17), „Entwurf einer Theorie der Figuration bei Dostojewskij“ (5, 2001, S.147-170), „‘Père-version‘ bei Dostojewskij. Ein Lacanianischer Blick auf die ‚Brüder Karamasow‘“ (6, 2002, S. 163-173), „Zu russisch oder zu ritterlich? Konzeptionen der Beichte bei Joseph Conrad und Fedor Dostoevskij“ (11, 2007, S. 7-24) und, auf Englisch: „Heidegger and Dostoevsky: Philosophy and Politics“ (15, 2011, S. 35-45). Die Treue zum Text wird hier stets von höchster theoretischer Selbstreflexion begleitet, wobei mit Philosophie und Politik allerdings eine andere logische Ebene betreten wird als in den vier vorausgehenden Aufsätzen. Außerhalb der Dostoevsky Studies erschien von Ulrich Schmid unter anderem „Psychomachie, Figuration und Erzählstruktur. Darstellungsformen des komplexen Bewußtseins bei Dostoevskij“ (in: Seelengespräche, herausgegeben von Beatrice Jakobs und Volker Kapp. Berlin: Duncker & Humblot 2008, S. 213-228).

Rudolf Neuhäuser liefert mit seinem Aufsatz „Der Lohn des Glaubens und der Bürger des Kantons Uri: F M. Dostojewskij und seine ‚Bösen Geister‘“ (14, 2010, S. 115-144) eine Ergänzung zu seinem Dostojewskij-Buch von 1993 und betont vor allem, dass der Roman ohne Kenntnis von „Dostojewskijs eigener Problemlage“ (S. 143, Fußnote 25) nicht verstanden werden kann, was sich an Horst-Jürgen Gerigks Beitrag „Stawrogins kreativer Nihilismus: Dostojewskijs Paradoxon in den ‚Dämonen‘“ (in der Festschrift für Geir Kjetsaa „Life and Text“, Oslo1997, S. 133-145) zeige, worin Dostojewskijs eigene Problemlage als der „Schlüssel zu diesem Roman“ unberücksichtigt bleibe. Ergänzung ist auch Rudolf Neuhäusers Aufsatz „Dostojewskijs Roman ‚Der Spieler‘. Eine andere Lesart“ (6, 2002, S.48-55), worin gerade dieser Text als Vorläufer der Moderne gekennzeichnet wird. Von gattungspoetischer Relevanz ist insbesondere Rudolf Neuhäusers Beitrag „Genres of Novel and Tale in Dostoevsky’s Works“ in der Festschrift für Malcolm Jones „Dostoevsky On the Threshold of Other Worlds“ (Ilkeston, Derbyshire: Bramcote Press 2006, S. 3-13), worin Reiner Wiehls Begriff der „Zeitwelt“ in Anschlag gebracht wird und Dostojewskijs Erzählungen seinen Romanen gegenübergestellt werden. 2008 veröffentlicht Rudolf Neuhäuser „Dichtung im Spannungsfeld von Wirklichkeit und Illusion. Gedanken zum Verhältnis von Text und Leben bei Dostojevskij“ im Sammelband „Sub specie tolerantiae: pamjati V. A, Tunimanova“ (Sankt-Peterburg: Nauka, S. 71-83), eine Erläuterung seiner Deutungsmethode. Grundsätzliche Fragen bezüglich der Weltanschauung Dostojewskijs behandel Rudolf Neuhäuser mit „Rußland und der Westen. Zu den ideologischen Grundlagen in Dostojewskijs Werk (Jahrbuch, 1, 1992, S.66-79) sowie in „What is Wrong with America? Dostoevsky and Others. Neoliberalism Criticized from the Point of View of the Nineteenth Century?“ (Dostoevsky Studies, New Series, 9, 2005, S. 9-30). Wichtig in diesem Zusammenhang auch sein Aufsatz „The Brothers Karamazov. A Contemporary Reading of Book VI, ‚A Russian Monk‘“ (Dostoevsky Studies, 7, 1986, S.135-151).

Auch Dunja Brötz setzt die Thematik ihres Dostojewskij-Buches von 2008 fort mit dem Aufsatz „Dostojewskij in Brasilien. Raskolnikows Wiederkehr in Heitor Dhalias Film ‚Nina‘ (2004)“ (14, 2010, S. 43-88). Und Wolf Schmid lässt mit seinem Artikel „Dostoevskijs Erzähltechnik in narratologischer Sicht“ (6, 2002, S.63-72) erneut den Horizont seines Dostojewskij-Buches von 1973 präsent werden, so wie Christiane Schulz mit ihren Ausführungen zu „Intrige, Kalkül und Innerlichkeit: Versatzstücke des bürgerlichen Trauerspiels bei Dostojewskij“ (6, 2002, S.134-144), worin es um Schillers „Kabale und Liebe“ sowie um Lessings „Miß Sara Sampson“ und „Emilia Galotti“ geht, an ihr Dostojewskij-Buch von 1992 anknüpft. Birgit Harreß wiederum ergänzt ihre Dostojewskij-Monographie von 1993 mit ihrem Artikel „‘Besy‘ als Sendschreiben Dostoevskijs an Rußland“ (12, 2008, S. 37-50). Und Wolfgang Kasack erweitert mit seinem Aufsatz „Ansichten des Todes in Dostojewskijs Roman ‚Der Idiot‘“ (5, 2001, S. 71-76) das entsprechende Kapitel seiner knapp gehaltenen Dostojewskij-Monographie von1998. All diese Nachträge sind keine Wiederholungen, sondern ein öffentliches Nachdenken der Dostojewskij-Experten, die von ihrer spezifischen Fragestellung immer neu angetrieben werden.

Es gibt aber auch Quereinsteiger aus anderen Disziplinen, die in den Dostoevsky Studies zu Wort kommen. So verfasst Dorothea Redepenning als Musikwissenschaftlerin und Slawistin einen Artikel über „Dostojewskij auf der Opernbühne“ (14, 2010, S. 13-42). Sie ermittelt 40 Kompositionen, die auf Texten von Dostojewskij beruhen und in chronologischer Folge tabellarisch erfasst werden (S. 40-42): Opern, Ouvertüren für Orchester, Film-Musik, Bühnenmusik, Dramatisches Oratorium, Vokalsymphonie, Ekklesiastische Aktion für zwei Sprecher, Bass und Orchester, Kammeroper für zwei Personen und Streichquartett, „Vier Gedichte des Hauptmanns Lebjadkin“ für Bass und Klavier (von Schostakowitsch). Nach dem Kapitel „Dostojewskij-Opern im Überblick“ werden von Dorothea Redepenning zwei Opern ausführlich abgehandelt: Prokofjews „Der Spieler“ und Janaceks „Aus einem Totenhaus“. Mit Notenbeispielen.

Dietrich von Engelhardt veröffentlicht als Medizinhistoriker und Slawist zwei Artikel: „Epilepsie in Leben und Werk Dostojewskijs: Stationen und Aspekte der Forschung aus medizinhistorischer Sicht“ (5, 2001, S. 25-40) und „F. M. Dostojewskij: ‚Der Spieler‘. Phänomene, Ursachen, Ziele und Symbolik einer Sucht“ (14, 2010, S. 89-112). In diesem Zusammenhang ist auch der Artikel des Epileptologen Dieter Janz zu nennen: „Zum Konflikt von Kreativität und Krankheit: Dostojewskijs Epilepsie“ (10, 2006, S. 125-140). Was Dostojewskijs literarische Darstellung dieser Krankheit anbelangt, so dürfen hier drei Abhandlungen des Psychiaters Hubertus Tellenbach nicht unerwähnt bleiben: „Dostojewskijs epileptischer Fürst Myschkin: Zur Phänomenologie der Verschränkung von Anfallsleiden und Wesensänderung“, „Der ‚Menschgott‘: Seine Geburt aus der Aura des epileptischen Kirilloff in Dostojewskijs ‚Dämonen‘“ und „Smerdjakoff: Die epileptogene Erniedrigung des Daseins in Dostojewskijs ‚Brüdern Karamasoff‘“ (in: Tellenbach, Schwermut, Wahn und Fallsucht in der abendländischen Dichtung. Hürtgenwald: Guido Pressler 1993, S. 205-242). Schon in seinem Buch „Geschmack und Atmosphäre. Medien menschlichen Elementarkontaktes“ (Salzburg: Otto Müller 1968) hatte sich Tellenbach über Dostojewskij geäußert: „Die Krisis Aljoschas und die Atmosphäre der Verwesung“ (über den Verwesungsgeruch des Starez Sossima, S. 77-83) und „Die Herkunft der Doppelgänger-Halluzinose des Iwan Karamasoff aus der Atmosphärisierung der Verzweiflung“ (S. 83-95). Hansjörg Schneble, Epileptologe, analysiert in seinem Aufsatz „Epilepsie und Prophetie in der Literatur“ Murin aus der „Wirtin“, Stefan Zweigs Dostojewskij-Porträt in dessen „Sternstunden der Menschheit“ sowie „höhere Erkenntnis“ bei Myschkin und Cäsar (in: „Das ist eine alte Krankheit“. Epilepsie in der Literatur. Herausgegeben von Dietrich von Engelhardt, Hansjörg Schneble, Peter Wolf. Stuttgart und New York: Schattauer 2000, S.123-140). Von Therese Wagner-Simon erscheint 1975 „Dostojewskijs ‚Idiot‘ – der ‚Heilige Kranke‘“ (in „Psychiatrische Aspekte des Schöpferischen und schöpferische Aspekte der Psychiatrie“ von Gaetano Benedetti unter Mitwirkung von Therese Wagner-Simon und Louis Wiesmann. Göttingen: Verlag für Medizinische Psychologie im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, S. 212-238). Ein literaturwissenschaftliches Fazit mit Blick auf Dieter Janz zieht Horst-Jürgen Gerigk: „Epilepsie in den großen Romanen Dostojewskijs als hermeneutisches Problem“ (10, 2006, S. 141-153).

Die Dostoevsky Studies bieten, wie man sieht, ein einzigartiges internationales Forum für alle Aspekte des Lebens und des Werks Dostojewskijs. Dostojewskij auf der Opernbühne ist hier als Thema genauso willkommen wie die Epilepsie in Leben und Werk Dostojewskijs. Dieses Forum steht für jede Interessenahme offen und garantiert vor allem auch die sofortige internationale Verbreitung. So betritt etwa Bettina Kaibach Neuland mit ihrem Artikel „Hostovský und Dostoevskij: der Untergrundmensch auf Tschechisch“ (12, 2008, S.105-122). Und Olga Caspers dokumentiert, wie sich die Sowjetunion vor einem einzigen Buch gefürchtet hat: „Dostoevskijs ‚Besy‘: Zur Geschichte der sowjetischen Einzelausgabe von 1935“ (12, 2008, S.23-63). Der Kunsthistoriker Dietrich Schubert stellt „Munchs Dostojewskij-Kopf von 1902“ vor (5, 2001, S. 5-10, mit Abbildung), und Wolfgang Kasack wertet unveröffentlichte Tagebucheinträge seines Vaters Hermann Kasack aus: „Zur frühen Dostojewskij-Lektüre von Hermann Kasack“ (5, 2001, S.41-50). Die Nietzsche-Forscherin Renate Müller-Buck äußert sich zum Thema „‘Der einzige Psychologe, von dem ich etwas zu lernen hatte‘: Nietzsche liest Dostojewskij“ (6, 2002, S. 89-118), und der Linguist Robert Hodel behandelt „Dostoevskij zwischen Realismus und Moderne: eine Untersuchung zur Syntax“ (10, 2006, S. 9-29).Dauerndes Faszinosum bleiben die fünf großen Romane Dostojewskijs und der ihnen vorausgehende Sträflingsreport „Aufzeichnungen aus einem Totenhaus“, wenn auch diese sechs Texte nicht so zahlreiche Einzelanalysen finden, wie das ihrer Bedeutung entsprechen würde. Es ist schwierig, wie bereits erwähnt, separate Einzelanalysen durchzuführen, ohne dabei das Auffangnetz einer Rückbindung an den damaligen Zeitgeist oder an das Leben des Autors aufzuspannen. Der Künstler Dostojewskij ist aber weder im Zeitgeist noch im Leben des Autors zu finden, sondern nur in der poetologischen Konfrontation des Lesers mit dem einzelnen Text. „Dostojewskijs Roman ‚Der Idiot‘ als Phänomenologie der Verkennung“ (3,1999, S. 55-72) von Horst-Jürgen Gerigk ist ein Beispiel für eine solche Konfrontation.

Die für unseren Zusammenhang notwendige, nämlich ordnende Unterscheidung verschiedener „Zeitwelten“, in denen sich die Dostojewskij-Forschung automatisch bewegt, ist denn auch von Horst-Jürgen Gerigk in seiner grundlegenden Abhandlung „Das Russland-Bild in den fünf großen Romanen Dostojewskijs“ ausgearbeitet worden (in: Zeitperspektiven. Studien zu Kultur und Gesellschaft. Beiträge aus der Geschichte, Soziologie, Philosophie und Literaturwissenschaft. Herausgegeben von Uta Gerhardt. Wiesbaden: Franz Steiner Verlag 2003, S. 49-79). Er unterscheidet mit Bezug auf Dostojewskij fünf Zeitwelten. Die erste Zeitwelt ist die von den fünf großen Romanen aufgestellte und eröffnete Welt, in die wir als Leser während der Lektüre entführt werden. Wir erleben dabei das „Heute“, „Gestern“ und „Morgen“ aus der Sicht der handelnden Figuren und haben unsere eigene Welt, in der wir leben, verlassen. Die zweite Zeitwelt ist die von den fünf großen Romanen dargestellte Entwicklung Russlands. Wenn wir uns auf diese Welt einlassen, die von den fünf Romanen impliziert wird, leisten wir eine historische Rekonstruktion der russischen Gesellschaftsentwicklung zwischen 1865 und 1875. Dostojewskijs fünf große Romane sind Gegenwartsromane, die nur ein einziges Jahrzehnt chronologisch abschreiten, wobei die „Brüder Karamasow“ als letzter Roman im Jahre 1866 spielen. Dostojewskij wollte die Geschichte seines Jahrzehnts noch einmal schreiben, mit dem Wissen um inzwischen erkennbare positive, christliche Strömungen, die er bis ins Jahr 1879 verfolgen wollte. Die Fortsetzung der „Brüder Karamasow“ kam aber nicht mehr zustande, weil Dostojewskij im Januar 1881 verstorben ist. Innerhalb dieser zweiten Zeitwelt sind die fünf großen Romane zeitgeschichtliche Dokumente, eingegliedert in die Geschichte Russlands. Die dritte Zeitwelt ist die Biographie Dostojewskijs. Wenn wir Dostojewskijs Leben nachzeichnen, versetzen wir uns in seine Situation und sehen seine Umwelt und die Entstehung seiner Romane als Reaktion auf diese Umwelt. Wir sehen dann, einfühlend, mit seinen Augen, um ihn hier und jetzt als Individuum zu verstehen. Die vierte Zeitwelt ist die Entwicklung Dostojewskijs als Schriftsteller, seine Entwicklung als künstlerische Intelligenz. Zu dieser Entwicklung gehört zentral die Aneignung und Weiterentwicklung der von der Tradition vorgegebenen Erzähltechnik. Es ist die Zeitwelt des aufsteigenden Romans, die von E. T. A. Hoffmann, Balzac und Dickens über Gogol und Lermontow bis hin zu Joseph Conrad und William Faulkner reicht und im Hollywood-Film der Billy Wilder („Double Indemnity“) und David Lynch („Lost Highway“, „Mulholland Drive“) ihre moderne Variante findet. In dieser Zeitwelt wird der von Dostojewskij entwickelte Romantypus zu einer Station in der europäisch-amerikanischen Geschichte der immer komplexer werdenden Erzählverfahren. Die fünfte Zeitwelt ist die Dostojewskij-Rezeption: hier haben wir es mit seiner Wirkungsgeschichte zu tun, die je nach dem Standort des Rezipienten von anderen Akzenten geprägt wird. Der hier verwendete Begriff „Zeitwelt“ wurde von dem Heidelberger Philosophen Reiner Wiehl geprägt. In seinem Buch „Zeitwelten. Philosophisches Denken an den Rändern von Natur und Geschichte“ (Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998, S. 7) heißt es: „Zeitwelten sind subjektive Eigenwelten. Eine Zeitwelt ist eine „einzigartige Welt“, verbunden mit einer „je einmaligen Zeit“ und einem „je einzigen Subjekt.“ Das bedeutet: „Eine Zeitwelt ist in dieser Verbindung ein Individuum, eine einmalige, einzigartige Verbindung von Welt, Zeit und Subjekt. Die Komponenten dieser Verbindung gehören untrennbar zusammen. Keine hat außerhalb ihrer Verbindung ein eigenständiges Sein,.“ Mit anderen Worten: eine Zeitwelt ist stets erlebte Zeit und erlebter Raum aus einer Situation heraus. Was der Begriff „Zeitwelt“ kennzeichnet, liegt auf einer anderen logischen Ebene als etwa „gemeinsame Welt“ (Familie, Beruf) und „geschichtliche Welt“ (Einfühlung in Fremdpsychisches, das vergangen ist). Die Eigenzeit der Zeitwelt ist verschieden von der gemeinsamen Zeit und der geschichtlichen Zeit. Eine Zeitwelt hat immer ein Subjekt hier und jetzt als Zentrum.

Was aber wird mit solchen Überlegungen für die Dostojewskij-Forschung gewonnen? Grundsätzlich gesehen, eine höhere Selbstreflexion dessen, der sich mit Dostojewskij wissenschaftlich beschäftigt. Und damit ist auch eine Bewusstheit von der Hierarchie der Fragestellungen verbunden. Konkret gesagt: die Liebesbeziehung Dostojewskijs mit Apollinaria Suslowa zu ermitteln, erfordert eine völlig andere geistige Anstrengung, als die allegorische Bedeutung des Justizirrtums in den „Brüdern Karamasow“ herauszuarbeiten. Das heißt, die erste Zeitwelt, die in der Eigenzeit der literarischen Texte Dostojewskijs fundiert ist, ist Grund und Anlass aller Dostojewskij-Forschung, die sich inzwischen mit der Etablierung Dostojewskijs als Klassiker der Weltliteratur an alles hängt, was auch nur irgendwie mit Dostojewskij zu tun hat. Sogar, was seine Tochter Aimee (= Ljubov’) über ihren Vater gesagt hat, wird ernsthaft diskutiert, weil so mancher Dostojewskij-Leser gerade dies wissen möchte. Die Unterscheidung verschiedener Zeitwelten, in die sich die Dostojewskij-Forschung, ob sie will oder nicht, hineingestellt sieht, gestattet eine sachgerechte Kennzeichnung der verschiedenen Möglichkeiten, sich Dostojewskij wissenschaftlich zu nähern. Erfolgreich bekämpfen lassen sich Fragestellungen nicht, sie kommen und gehen. Ein Historiker wird Dostojewskijs Romane als Material der russischen Geschichte verarbeiten (zweite Zeitwelt). Eine Pathographie wird Dostojewskijs Krankheit (Epilepsie) in den Vordergrund stellen (dritte Zeitwelt). Dostojewskij selbst aber hat mit seinen Romanen sowohl die russische Geschichte als Material verarbeitet (zweite Zeitwelt) als auch seine eigene Krankheit (dritte Zeitwelt) und damit die Rückbindung des Materials an die Zeitgeschichte und an seine eigene Krankheitserfahrung transzendiert: im Kunstergebnis (erste Zeitwelt).

In den ersten neun Bänden der Dostoevsky Studies, die von 1980 bis 1989, herausgegeben von Rudolf Neuhäuser, in Klagenfurt (Österreich) erschienen sind, finden sich insgesamt 14 Beiträge in deutscher Sprache: von Michael Wegner (zwei), Rudolf Neuhäuser, Reinhard Lauth, Konrad Onasch (drei), Horst-Jürgen Gerigk (fünf), Wilfried Potthoff, Martin Raether.

In den 15 Jahrgängen der Dostoevsky Studies. New Series, die von 1993 bis 2011 erschienen sind (ab Bd. 3,1999, im Attempto Verlag, Tübingen, herausgegeben von Horst-Jürgen Gerigk, Universität Heidelberg), finden sich insgesamt 41 Beiträge in deutscher Sprache: von Aleksandar Flaker, UIrich Schmid (vier), Taro Odashima, Horst-Jürgen Gerigk (drei), Ursula Bieber, Birgit Harreß, Matthias Freise, Wolfgang Kasack (zwei), Dietrich von Engelhardt (zwei), Andreas Hüneke, Dietrich Schubert, Rudolf Neuhäuser (zwei), Wolf Schmid (zwei), Renate Müller-Buck, Christiane Schulz, Maria Deppermann, Malgorzata Swiderska, Hans Rothe, Ludolf Müller, Dunja Brötz (zwei), Regine Nohejl, Gudrun Goes, Natalja Tscherepanowa, Robert Hodel, Wladimir Tunimanow, Dieter Janz, Maike Schult, Olga Caspers, Bettina Kaibach, Jordi Morillas, Dorothea Redepenning.

Alle diese Autoren und ihre Publikationen über Dostojewskij lassen sich abrufen auf der „Current Bibliography“, die jährlich von June Pachuta Farris (Bibliographer for Slavic and East European Studies. The Joseph Regenstein Library. University of Chicago) für Dostoevsky Studies. New Series zusammengestellt wird. Email Adresse: jpf3@midway.uchicago.edu
Die andere Sammelstelle der deutschsprachigen Dostojewskij-Forschung ist das Jahrbuch der Deutschen Dostojewskij-Gesellschaft, dessen erster Band 1992 erschienen ist und von dem inzwischen 17 Bände vorliegen. Ab Band 16 (2009) erscheint das Jahrbuch im Verlag Otto Sagner, München und Berlin, herausgegeben „im Auftrag der Deutschen Dostojewskij - Gesellschaft und im Namen des wissenschaftlichen Beirats der Gesellschaft“ von Gudrun Goes (Magdeburg), die im Dezember 2008 zur Vorsitzenden der Deutschen Dostojewskij-Gesellschaft gewählt wurde und in dieser Funktion Maike Schult abgelöst hat. Gudrun Goes ist bereits mit einem provozierenden Aufsatz über „Anna keine Muse für Dostojewskij?“ in den Dostoevsky Studies. New Series hervorgetreten (8, 2004, S. 97-112) und hat zwei weitere Aufsätze über „Bruderzwist und Familienschande in der Romanwelt Fedor Dostoevskijs. Die Karamasows, eine zerstörte Familie“ (in: Familienbande, Familienschande. Geschlechterverhältnisse in Familie und Verwandtschaft, herausgegeben von Eva Labouvie und Ramona Myrrhe, Köln: Böhlau 2007, S. 75-93) und „Anna Dostojewskajas Tagebücher, Briefe und Erinnerungen: Selbstdarstellung oder Verweigerung?“ (in: Jahrbuch der Deutschen Dostojewskij-Gesellschaft, 15, 2008, S. 31-46) veröffentlicht. Als beispielhaft für die Tätigkeit der Deutschen Dostojewskij-Gesellschaft sei Band 16 des Jahrbuchs (2009) näher betrachtet. Es trägt den Titel „Die Geschichte eines Verbrechens. Über den Mord in der Romanwelt Dostojewskijs,“ ist Swetlana Geier und Ludolf Müller gewidmet und präsentiert, nach einem Vorwort der Herausgeberin Gudrun Goes, neun Beiträge, eine „Deutsche Dostojewskij-Bibliographie 2008“ (von Clemens Heithus) und Buchrezensionen. Alle Beiträge liegen per definitionem auf Deutsch vor und behandeln: „Laudatio für Swetlana Geier“ (Rudolf Neuhäuser), „Dostojewskijs Tatorte“ (Horst-Jürgen Gerigk), „Raskol’nikovs Beil – Opfermesser, Schwert der Gerechtigkeit oder Messer für den Kaiserschnitt?“ (Tim Kraft), „Methoden der Umgehung des Fünften Gebots: F. M. Dostoevskij, Vladimir Nabokov, Woody Allen“ (Annelore Engel-Braunschmidt), „Der Diskurs über Todesstrafe und Haft. Zum europäischen Geist in Dostoevskijs ‚Der Idiot‘“ (Andrea Zink), „Der Lohn des Glaubens und der Bürger des Kantons Uri. Dostojewskijs ‚Böse Geister‘ (Kurzfassung)“ (Rudolf Neuhäuser), „Dostojevskijs ‚Großinquisitor‘ in literaturwissenschaftlicher Sicht – Legende oder Parabel?“ (Rainer Grübel), „Tod und Leben mit Dostojewskij. Der Fall Schümer. Ein Beitrag zur theologischen Dostoevskij-Rezeption während des Nationalsozialismus“ (Maike Schult), „Nachruf auf Ludolf Müller“ (Rolf-Dieter Kluge). Was fällt auf? Das schreibende Ensemble ist (fast) dasselbe wie in den Dostoevsky Studies, was natürlich auch einen gewissen Standard der Argumente und ihrer Darstellung garantiert (so haben etwa Ulrich Schmid, Ludolf Müller, Hans Rothe, Rudolf Neuhäuser, Birgit Harreß, Christiane Schulz, Horst-Jürgen Gerigk, Wolfgang Kasack mehr als einen Aufsatz oder auch mehrere Aufsätze in den Jahrbüchern der Deutschen Dostojewskij-Gesellschaft publiziert, was selbstverständlich auch für die Vorsitzenden Maike Schult und Gudrun Goes gilt; völlig eingeschworen auf die Jahrbücher hat sich Karla Hielscher). Neuzugänge haben nicht auf sich warten lassen, so etwa Rainer Goldt mit seinem Beitrag „Fürst Myschkin – russischer Christus, Don Quixote, Sisyphos? Eine Einführung in den Roman ‚Der Idiot‘ und die Hintergründe seiner Entstehung“ (Jahrbuch 11, 2004, S.27-39) und Christian Kühn mit seinem Beitrag „Dostojewskij und das Geld“ (Jahrbuch 11, 2004, S.111-138).

Die sorgfältige Bibliographie von Clemens Heithus ist hier in der Hauptsache, aber durchaus nicht ausschließlich, auf die deutschsprachigen Publikationen abgestellt und sucht dabei auch sämtliche „Nachworte“ zu deutschen Dostojewskij-Übersetzungen zu erfassen, wie sie etwa Rudolf Neuhäuser (bei Winkler Der Idiot und im Deutschen Taschenbuch-Verlag vor allem Die Erniedrigten und Beleidigten und Aufzeichnungen aus einem toten Haus, Der Doppelgänger und Arme Leute, insgesamt gleich 10 an der Zahl), Birgit Harreß (bei Reclam Die Sanfte, Der ewige Ehemann, Schuld und Sühne, Erzählungen, Aufzeichnungen aus einem Totenhause), Horst-Jürgen Gerigk (im Winkler Verlag, im Deutschen Taschenbuch-Verlag sowie bei S. Fischer, insgesamt sechs) und Natalie Reber (bei Goldmann) vorgelegt haben, und wie sie auch, von jeweils verschiedenen Autoren, darunter Angela Martini, Ilma Rakusa, Holt Meyer, Aage A. Hansen-Löve, in der zehnbändigen Piper-Ausgabe (1983-1993 mit neuen Nachworten zur alten Übersetzung von E. K. Rahsin) zu finden sind, sowie in Dostojewskijs „Gesammelten Werken“ des Aufbau Verlags zu neuen Übersetzungen verschiedener Übersetzer (herausgegeben von Gerhard Dudek und Michael Wegner). Eine komplette bibliographische Erfassung solcher „Nachworte“ oder „Einführungen“ im deutschen Sprachraum (ab 1906, als „Die Dämonen“ bei Piper mit einer Einführung von Arthur Moeller van den Bruck erschienen sind) steht allerdings noch aus.

Die Dostojewskij-Übersetzerin Swetlana Geier (1923-2010) ist inzwischen verstorben. Der Regisseur Vadim Jendreyko hat ihr mit seinem Film „Die Frau mit den fünf Elefanten“ (Mira Film, Basel, 2010, 93 Minuten) ein eindrucksvolles Denkmal gesetzt. Der Film schildert ihre Reise mit Regisseur und Enkelin nach Kiew, wo Swetlana Geier geboren wurde, und beobachtet sie zuhause in Freiburg beim Übersetzen des „Spielers“. Die fünf Elefanten aber, das sind die fünf großen Romane Dostojewskijs in der Neuübersetzung Swetlana Geiers, wie sie der Verlag Egon Ammann in Zürich von 1994 bis 2006 in luxuriöser Ausstattung herausgebracht hat, lieferbar in Leinen und auch in Leder.

Es sind nun, was deutsche Aufsätze über Dostojewskij anbelangt, die Dostoevsky Studies und das Jahrbuch der Deutschen Dostojewskij-Gesellschaft als die maßgebenden Verteiler kenntlich gemacht worden. Dem interessierten Leser bleibt es überlassen, sich auch noch anderweitig umzutun. So liefert etwa Aage A. Hansen-Löve einen willkommenen Forschungsbericht zum „Doppelgänger“ in seinem Nachwort zu Fjodor M. Dostojewskij: Der Doppelgänger. Frühe Romane und Erzählungen (übersetzt von E. K. Rahsin, München und Zürich: Piper 1990, S. 894-939), und Renate Lachmanns Aufsatz „Doppelgängerei“ analysiert weit ausholend und begriffsscharf eine Denkmode mit den einschlägigen Texten von Gogol, Dostojewskij und Nabokov im Zentrum (in: Individualität, herausgegeben von Manfred Frank und Anselm Haverkamp. München: Fink 1988, S. 421-439). Fündig, was Dostojewskij betrifft, wird man auch in Renate Lachmanns „Gedächtnis und Literatur“ (Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990), und 2009 veröffentlicht sie in der Zeitschrift „Arcadia“ (44/1, S. 121-136) „Die Lehre der Affekte und ihre Rolle im Werk Dostoevskijs.“ Von den elf Essays in Peter Bieris „Das Handwerk der Freiheit. Über die Entdeckung des eigenen Willens“ (Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 2005) beschäftigt sich der neunte mit „Lebensgeschichte und Verantwortung: Raskolnikow vor dem Richter“ (S. 320-365). Am 23. Januar 1981 erschienen in der „Neuen Zürcher Zeitung“ von Wolfgang Kasack „In der Mitte der Mensch. Zum 100. Todestag von Fjodor M. Dostojewski“ (S. 33-34) und von Josef Imbach „Dostojewskis Kritik an der römischen Kirche“ (S. 34). Und Peter Sloterdijk hat 1983 in seiner „Kritik der zynischen Vernunft“ (2 Bde., Frankfurt am Main: Suhrkamp) ein ganzes Kapitel Dostojewskij gewidmet: „Der Großinquisitor oder: Der christliche Staatsmann als Jesusjäger und die Geburt der Institutionenlehre aus dem Geist des Zynismus“ (Bd. 1, S. 344-369). Der Verfasser rechnet Dostojewskijs „Großinquisitor“ dem „Kabinett der Zyniker“ zu, zwischen Mephistopheles als dem Geist, der stets verneint, mit dem Willen zum Wissen, und dem Heideggerschen „Man“ als dem „realsten Subjekt“ des modernen „diffusen Zynismus.“ Wörtlich heißt es: „Das eigentliche Resultat, das sich aus dem zynischen Räsonnement des Großinquisitors ergibt, besteht nicht so sehr in der Selbstbloßstellung des Kirchenpolitikers, sondern in der Entdeckung, daß Gut und Böse, Zweck und Mittel gegeneinander ausgetauscht werden können. Dieses Ergebnis kann man gar nicht genug betonen. Mit ihm schlittern wir unwiderstehlich ins zynische Gebiet. Denn es bedeutet nichts Geringeres, als daß die Religion ebenso zum Instrument der Politik gemacht werden kann wie die Politik zum Instrument der Religion. Weil dies so ist, gerät alles, was man für absolut hielt, in ein relatives Licht. Alles wird eine Frage der Beleuchtung, des Standpunkts, der Projektierung, der Zwecksetzung“ (S. 355). Hierzu bleibt festzustellen: Gewiss ist der Sowjetstaat eine Fortsetzung der zynischen Vernunft des Großinquisitors; daraus lässt sich aber keine Relativierung des Absoluten bei Dostojewskij ableiten. Jewgenij Samjatins Roman „Wir“, der schon Anfang der zwanziger Jahre den Sowjetstaat satirisch über die Klinge springen lässt, und das in direktem Bezug auf Dostojewskijs Großinquisitor, wäre dafür ein Beweis. Eine ungewöhnliche Fragestellung verfolgt Karin Nitzschmann  in ihrer Dissertation „Psychologische Erkenntnis durch Visualisation“. Untertitel: „Eine Anwendung von Buytendijks ‚Psychologie des Romans‘ auf Dostojewskij und Nietzsche“ (Regensburg: S. Roderer Verlag 1988). Behandelt werden in separaten Kapiteln die folgenden Werke Dostojewskijs, die Nietzsche nachweislich gelesen hat: „Die Erniedrigten und die Beleidigten“, „Aufzeichnungen aus einem Totenhaus“, „Aufzeichnungen aus dem Untergrund“ (aufgeteilt in „Der Untergrund“ und „Bei nassem Schnee“) und „Die Dämonen“. Die Analysen dieser Texte werden bereits in ständigem Rückbezug auf die Sicht Nietzsches vorgenommen (S. 51-108), dessen Anmerkungen zur Lektüre detailliert nachfolgen (S. 109-133). Die Schriften F. J. J. Buytendijks, an der Spitze seine „Psychologie des Romans“ (1950, deutsch Salzburg 1966), liefern der Verfasserin das Koordinatennetz, in das sie die Dostojewskij-Lektüre Nietzsches einzeichnet. Hervorhebung verdient des weiteren das Dostojewskij-Kapitel in Wolfgang Kasacks „Christus in der russischen Literatur. Ein Gang durch ihre Geschichte von den Anfängen bis zum Ende des 20. Jahrhunderts“ (Stuttgart: Verlag Urachhaus 2000, S. 37-56). Eine direkte Fortsetzung hierzu liefert Wolfgang Kasack mit seiner Abhandlung „Dostojewskijs Prüfstein des Glaubens: Hans Holbeins Gemälde ‚Der Leichnam Christi im Grabe‘ im Roman ‚Der Idiot‘“ (in: Stimmen der Zeit, Band 219, Heft 11, November 2001, S. 744-756). Der Umsetzung von Claude Lorrains Gemälde „Acis und Galatea“ von1657 in eine Bildbeschreibung, die Dostojewskij in seinem Roman „Die Dämonen“ unter dem Titel „Das goldene Zeitalter“ in Stawrogins Beichte unterbringt, ist Arnim Hölter 2000 in seinem Aufsatz „Notizen zu einer Bild-Text-Parallele bei Dostojewski und Thomas Mann“ nachgegangen (in: Komparatistik. Jahrbuch der Deutschen Gesellschaft für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft 1999/2000, Heidelberg: Synchron 2000, S. 61-73). Hölter greift darin auf Victor I. Stoichitas  Überlegungen zu Dostojewskijs Verfahren der verbalen Transposition einer Bildvorlage zurück, wie dieser sie in seiner Abhandlung „Ein Idiot in der Schweiz. Bildbeschreibung bei Dostojewski“ vorgelegt hat (in: Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart, herausgegeben von Gottfried Boehm und Helmut Pfotenhauer, München: Fink 1995, S. 425-444). Auch Gerhard Gönners Monographie „Fjodor M. Dostojewskij“ (Salzburg 1981, S. 223) bildet Claude Lorrains Gemälde ab, wie Hölter hervorhebt. 1993 erscheint von Marianne Kesting „Im Labyrinth der Wahrnehmung. Dostoevskijs ‚Doppelgänger’ als Modell für Kafkas ‚Proceß‘“ (in: Germanisch-Romanische Monatsschrift, Bd. 43, Heft 1, S. 19-35). Ein maßgebender Beitrag zum Verhältnis „Kafka und Dostojewskij“ findet sich in Joseph P. Strelkas Monographie „Der Paraboliker Franz Kafka“ (Tübingen: Francke Verlag 2001, S. 53-69). Ein konziser Forschungsbericht wird dabei gleichsam nebenbei mitgeliefert: Max Briod, Marthe Robert, Paul Eisner, Jean Starobinski, Natalie Saraute, W. J. Dodd, Margaret Church, Louis Breger, Mark Spilka, Ritchie Robertson. Sie alle haben sich über Kafka und Dostojewskij geäußert. Strelka hebt zu Recht die Bedeutung von Nina Hoffmanns „Dostojewsky. Eine biographische Studie“ (Berlin 1895) für Kafka hervor und warnt vor allzu eng gefassten Einfluss-Studien: es gehe nicht um „mechanische Imitationen“, sondern um „anverwandelnde Auseinandersetzung“ (Hartmut Binder). Was die Welt Kafkas und die Welt Dostojewskijs fundamental verbinde, sei das Schuldigsein, das unabtretbare Schuldigsein des Einzelnen. Beide Welten sind für Joseph P. Strelka aus dem Lebensvollzug ihrer Autoren entstanden und zu deuten. Paul Natorps Schrift „Fjedor Dostojewskis Bedeutung für die gegenwärtige Kulturkrisis. Mit einem Anhang zur geistigen Krisis der Gegenwart“ (Jena: Eugen Diederichs 1923) wird in heutiger Sicht von Gerhard Ressel diskutiert: „Aspekte einer nichtliterarischen Dostoevskij-Rezeption in Deutschland. Kulturphilosophische Bedingungen und zeitgeschichtliche Gründe der Dostoevskij-Schrift des Neukantianers Paul Natorp“ (in: Zeitschrift für Slawistik, 47, 2002, S. 76-87). 2003 veröffentlicht Gerhard Ressel „Phänomene des Bösen bei F. M. Dostoevskij“ (in: Magister et amicus. Festschrift für Kurt Gärtner zum 65. Geburtstag, Wien: Edition Präsens, S. 787-800). Von Gerhard Ressel ist des weiteren zu nennen: „Bildung und Entwicklung. Personale Metamorphose und dialogisch-polyphone Erzählstruktur in F. M. Dostoevskijs Roman ‚Podrostok‘ (Der Jüngling)“ (in: Das Wagnis des Neuen. Festschrift für Klaus Fischer zum 60. Geburtstag, Nordhausen: Verlag Traugott Bautz 2009, S. 609-631). Eine Zusammenfassung ihrer eigenen Position unternimmt Birgit Harreß mit ihrem Aufsatz „Die Neuwerdung des Menschen: Zur poetischen Anthropologie in Dostoevskijs großen Romanen“ (in: Zeitschrift für Slavische Philologie, 52, 1992, Heft 2, S.304-318) und setzt ihre Auseinandersetzung mit Dostojewskijs „Dämonen“ fort mit ihren Überlegungen zu „Verzweiflung als Schlüssel zum Textverstehen: Kierkegaards Schrift ‚Die Krankheit zum Tode‘ (1849) und Dostojewskijs Roman ‚Die Dämonen‘ (1871/72)“ (in: Verzweiflung als kreative Herausforderung, herausgegeben von Hermes A. Kick und Günter Dietz, Berlin: Lit Verlag Dr. W. Hopf 2008, S.129-141). Auch dem letzten Roman Dostojewskijs bleibt Birgit Harreß auf der Spur mit ihrem Beitrag über „Versöhnung und Erlösung in Dostojewskijs Roman ‚Die Brüder Karamasow‘“ (in: Trauma und Versöhnung, Herausgeber und Verlag wie oben, 2010, S. 99-109). 2011 erscheint von Dirk Kemper „Die Karamazovs gegen Schiller und Kant. Zur Dekonstruktion des deutschen Idealismus in Dmitrij Karamazovs Beichte eines heißen Herzens. In Versen (fremdkulturelle Analyse)“ im Sammelband „Eigen- und fremdkulturelle Literaturwissenschaft“, herausgegeben von Dirk Kemper, Aleksej Žerebin, Iris Bäcker (München: Wilhelm Fink; Schriftenreihe des Instituts für russisch-deutsche Literatur- und Kulturbeziehungen an der RGGU Moskau, Bd. 3, S. 161-177). Zu begrüßen ist die bislang unterbliebene Aufarbeitung des Verhältnisses von Gottfried Benn zu Dostojewskij, die Jürgen Schröder vorgelegt hat: „‘Die ‚Laus aus Mansfeld (Westprignitz)‘ Gottfried Benn und Fjodor M. Dostojewskij“ (in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft, 9, 2011, S. 307-323). Lesenswert auch die Abhandlung von Johannes Harder „Das Bild des Verbrechers bei F. M. Dostojewskij“ (in: Erziehung und Recht im Vollzug der Freiheitsstrafe, herausgegeben von Gerhard Deimling und Josef M. Häußling, Wuppertal: Peter Hammer Verlag 1974, S. 39-51). Felix Philipp Ingold formuliert das heutige Interesse an Dostojewskijs publizistischem, Vermächtnis in seinem faktenreichen Artikel „Gegen den Inquisitor, die Hochseeschiffahrt und die kraftlosen Empörer. Die Wunder, das Geheimnis, die Autorität: Dostojewskis heilsgeschichtliche Mission im Zeichen der ‚russischen Idee‘“ (in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23. Dezember 2003, Nr. 298, S. 35). Biographisch orientiert und insbesondere auf den „Spieler“ ausgerichtet ist das Kapitel „Turgenev – Gončarov – Dostoevskij“ in der Monographie von Renate Effern „Der dreiköpfige Adler. Rußland zu Gast in Baden-Baden“ (Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft 1999, S. 156-167). Martin Walser zitiert gleich zu Anfang seiner Abhandlung „Über Rechtfertigung, eine Versuchung“ (Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2012, S. 8-9) einen für ihn programmatischen Satz aus Dostojewskijs Erzählung „Aus dem Dunkel der Großstadt“ (= Aufzeichnungen aus einem Kellerloch): „Ich versichere Ihnen feierlich, schon mehrere Male wollte ich ein Insekt werden, doch selbst dazu langte es nicht.“ Bereits 1996 hatte Martin Walser seinen Roman „Finks Krieg“ an Dostojewskijs „Doppelgänger“ ausgerichtet und 2002 im „Tod eines Kritikers“ Dostojewskijs „Idiot“ eingebracht: als Lektüre eines Patienten der Haar-Klinik, der behauptet: „Myschkin will mein Bruder sein.“ 1993 erscheint in zweiter Auflage „Der christliche Narr“ von Walter Nigg (Zürich: Diogenes, zuerst Zürich: Artemis 1956) darin: „Nur schön, weil er lächerlich ist: Dostojewskijs ‚Idiot‘“ (S. 349-403). Den „Dämonen“ besonders verpflichtet ist Andreas Maier, Autor des Romans „Kirillow“ (2005). Er bekennt sich in seinen „Frankfurter Poetikvorlesungen" unter dem Titel „Ich“ (Kapitel 4: „Die Verwirrung“, S. 94-122, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006) enthusiastisch und mit psychologisch-poetologischer Begründung zu Dostojewskij, nennt ihn den „wichtigsten Autor, den ich jemals haben werde, abgesehen vom Evangelisten“, womit Matthäus gemeint ist (S. 112).



Auch sei ein Blick in die Festschriften für deutsche und auswärtige Slawisten empfohlen (für Jan M. Meijer, Miscellanea Slavica, Amsterdam 1983; für Maximilian Braun, Slavisches Spektrum, Göttingen1983; für France Bernik, Ljubljana 1997; für Geir Kjetsaa, Life and Text, Oslo 1997; für Charles A. Moser, And Meaning for a Life Entire, Columbia, Ohio 1998; für Horst-Jürgen Gerigk, Die Wirklichkeit der Kunst und das Abenteuer der Interpretation, Heidelberg 1999; für Reinhard Lauer, Slavische Literaturen im Dialog, Wiesbaden 2000; für Rudolf Neuhäuser, Literarische Avantgarde, Heidelberg 2001; für Erik Egeberg, Translating Culture, Oslo 2001; für Rolf-Dieter Kluge, Itinera slavica, München 2002; für Hans Rothe, Scholae et symposium, Köln 2003; für Maria Deppermann, Russische Moderne Interkulturell. Von der Blauen Blume zum Schwarzen Quadrat, Innsbruck 2004; für Gerhard Ressel, Sprache -- Literatur -- Kultur: Studien zur slavischen Philologie und Geistesgeschichte, Frankfurt am Main 2005; für Malcolm V. Jones, Dostoevsky on the Threshold of Other Worlds, Ilkestone, Derbyshire 2006). So findet man etwa in der Festschrift für Bodo Zelinsky, die 2007 unter dem Titel „Die Lust an der Maske“ erschienen ist (Frankfurt am Main: Peter Lang), gleich zwei inspirierende Aufsätze: „Masken der Scham: Variationen über ein Thema bei Gogol‘ und Dostoevskij“ von Urs Heftrich und „Maske, Usurpation, Allegorie: Erzählstrategien und Deutungsmodelle in Fedor Dostoevskijs ,Besy‘ (Die Dämonen)“ von Jens Herlth. Mein Bericht aber ist hier zu Ende.

 

 

Zusätze

 

Wie David Perkins zu bedenken gibt, nehmen Kontexte am Bedeutungsvolumen eines literarischen Textes immer eine taxonomische Reduktion vor („Is Literary History Possible?“ Baltimore: The Johns Hopkins University Press 1992). Ein Kontext herrscht, indem er einen einzigen Aspekt des Textes ins Scheinwerferlicht hebt und diesen Aspekt komparatistisch vernetzt. Zahllos sind die Kontexte, aus denen uns die literarischen Werke Dostojewskijs mehr oder weniger unverhofft anblicken. Man könnte sagen, die Spur der Texte verliert sich dabei für den einzelnen Blick im Ozean der Kontexte. Die hier gelieferten Zusätze mögen deshalb als Abschied wahrgenommen werden, ein Abschied von der zu leistenden Aufgabe, deutschsprachige Dostojewskij-Forschung von vier Jahrzehnten Revue passieren zu lassen.

1988 erscheint von Ludolf Müller die Abhandlung „Die Begegnung und Auseinandersetzung von östlichem und westlichem Christentum im Leben und Werk Dostojewskijs, Tolstojs und Solov’evs“ im Sammelband „Tausend Jahre Christentum in Russland. Zum Millennium der Taufe der Kiever Rus‘“ (herausgegeben von K. C. Felmy, Georg Kretschmar, F. von Lilienfeld, C.-J. Roepke (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 78-82).

2002 veröffentlicht Renate Lachmann ihre Monographie „Erzählte Phantastik: Zu Phantasiegeschichte und Semantik phantastischer Texte“ (Frankfurt am Main: Suhrkamp), darin die Abhandlung: „Zeichen. Phantastik von Schrift und Buchstabe: Gogol, Dostojewskij, Hawthorne“ (S. 195-237).

2005 ist in Gerd Koenens „Der Russland-Komplex. Die Deutschen und der Osten, 1900-1945“ (München: C. H. Beck) natürlich auch von Dostojewskij die Rede. Das Kapitel „Eine deutsche Dostojewtschina“ (S. 348-354) bringt erfrischende Abkanzelungen des Dostojewskij-Kults nach 1918, nicht nur Theoderich Kampmann und Thomas Mann betreffend.

2006 erscheint von Karl-Josef Kuschel „Das Leiden Unschuldiger als Anklage gegen Gott. Spiegelungen bei F. M. Dostoevskij, J. Roth und A. Camus“ (in: Gynäkologische Praxis. 30/2, S.305-311.

2007 liefert Elsbeth Jütten in ihren „Diskursen über Gerechtigkeit im Werk Jakob Wassermanns“ den „Exkurs: Das Thema der Gerechtigkeit bei Dostojewski“ (Tübingen: Niemeyer, S. 159-167).

2008 finden wir von Riccardo Nicolosi „Das Blut der Karamazovs. Vererbung, Experiment und Naturalismus in Dostojevskijs letztem Roman“ im Sammelband „Laien, Lektüren, Laboratorien. Künste und Wissenschaft in Russland 1860-1960“ (herausgegeben vom Matthias Schwarzer, Frankfurt am Main: Peter Lang, S. 147-180).

Ebenfalls 2008 veröffentlicht Gottfried Schramm „Von Puschkin bis Gorki. Dichterische Wahrnehmungen einer Gesellschaft im Wandel“ (Freiburg i. Br., Berlin, Wien: Rombach Verlag), worin sich von insgesamt vierzehn Kapiteln zwei mit Dostojewskij beschäftigen. Bestes historisches Wissen von Schaffenslage des Autors und der geistigen Situation der Zeit (einschließlich der intertextuellen Vernetzung) führt hier zwangsläufig zur Reduktion der poetologischen Sachverhalte: sie kommen nicht zur Entfaltung. Historische Lektüre verknappt poetologische Lektüre. Dies zeigt sich exemplarisch an „Natasha’s Dance. A Cultural History of Russia“ von Orlando Figes, auf den sich Schramm beruft. Zentral behandelt werden von Schramm, was Dostojewskij betrifft, „Böse Geister“ (S. 211-231) und „Die Brüder Karamasow“ (S. 261-282).

2009 veröffentlicht Andrea Zink ihre Monographie „Wie aus Bauern Russen werden. Die Konstruktion des Volkes in der Literatur des russischen Realismus 1860-1880“ (Zürich: Pano Verlag). Darin unter „Nahrung“ ein Kapitel über die „Psychologie der Trinker“ mit Blick auf „Verbrechen und Strafe“ (S. 150-165) und unter „Recht und Unrecht“ ein Kapitel über „Akulkas Mann“ aus dem „Totenhaus“ (S. 255-272).

2010 präsentiert Christof Rudek die Monographie „Die Gleichgültigen. Analysen zur Figurenkonzeption in Texten von Tolstoj, Dostojewskij, Moravia, Camus und Queneau“ (Berlin: Erich Schmidt).

Wie aber sich schützen vor dem erdrückenden Anspruch von soviel Forschung, ohne der Sache selbst untreu zu werden? Die Antwort ist simpel und kann nur lauten: Dostojewskij lesen! Denn nicht zufällig nennt man in unserem Kontext seine literarischen Werke „Primärtexte.“

Heidelberg. Im September 2012.

 

Horst-Jürgen Gerigk: Dostojewskij-Forschung im deutschen Sprachraum zwischen 1971 und 2011
Horst-Jürgen-Gerigk-Dostojewskij-Forschu[...]
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