Horst-Jürgen Gerigk
Hass als literarisches Thema: eine Erzählung Michail Šolochovs und ein Gedicht Il'ja Erenburgs
In: „Zerstörer des Schweigens”. Formen künstlerischer Erinnerung an die nationalsozialistische Rassen- und Vernichtungspolitik in Osteuropa.
Herausgegeben von Frank Grüner, Urs Heftrich und Heinz-Dietrich Löwe.
Köln, Weimar, Wien: Böhlau Verlag 2006.
Seite 129 – 139.
ISBN-10: 3412361054
ISBN-13: 978 – 3412361051
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30. Mai 2007
Aus der menschlichen Gemeinschaft ausgeschlossen
„Wissenschaft vom Hass“: Eine Erzählung des Literaturnobelpreisträgers Michail Scholochow schildert die Deutschen des Weltkrieges
Am 22. Juni 1942 - die deutsche Wehrmacht rückte in Richtung Kaukasus und Stalingrad vor - erschien in der Parteizeitung „Prawda“ die Erzählung „Die Wissenschaft vom Hass“ des späteren
Literatur-Nobelpreisträgers Michail Scholochow („Der stille Don"). In erster Linie handelte es sich um ein Propagandastück: Soldaten und Bevölkerung sollten auf einen bedingungslosen Widerstand
eingeschworen werden. Sechs Tage später erließ Stalin den berüchtigten Befehl Nr. 227, der jedes Zurückweichen an der Front mit der Todesstrafe bedrohte
Der Heidelberger Literaturwissenschaftler Horst-Jürgen Gerigk hat jetzt herausgearbeitet, dass Scholochows Erzählung durchaus auch literarische Qualität hat. Es ist ein Lehrstück dafür, wie ein
gewöhnlicher Mensch zu einer Tötungsmaschine wird („Hass als literarisches Thema“, in: Zerstörer des Schweigens, Formen künstlerischer Erinnerung an die nationalsozialistische Rassen- und
Vernichtungspolitik in Osteuropa, hrsg. von F. Grüner, U. Heftrich, H.-D. Löwe, Böhlau Verlag, Köln, Weimar, Wien 2006).
In der Rahmenhandlung trifft der Erzähler an der Front auf den jungen Leutnant Viktor Gerasimow, der ruhig und besonnen zu sein scheint. Beim Anblick von drei gefangenen Deutschen verändert sich
jedoch sein Ausdruck: Er erbleicht, seine Wangenknochen treten hervor, und in seinen Augen entflammt unauslöschlicher Hass. Unwillkürlich schreckt der Erzähler zurück, bis der Politkommissar ihn
aufklärt. Gerasimow sei zuvor in deutscher Kriegsgefangenschaft gewesen, habe dort Schreckliches erlebt und könne seitdem keine lebenden Deutschen mehr sehen. Mit toten Deutschen sei das anders.
Wenige Tage später kommt es zu einem Gespräch. Gerasimow erzählt, er stamme aus Westsibirien, er sei Familienvater und habe als Mechaniker gearbeitet. Früher habe er die deutsche Technik und die
deutsche Literatur bewundert. Die ersten deutschen Gefangenen hätten seine Leute noch als „Kameraden“ angesprochen und ihnen von der eigenen spärlichen Ration etwas zu essen gegeben und Zigaretten
zugesteckt. Nach einem erfolgreichen Gegenangriff änderte sich jedoch diese Haltung. Nun sahen sie die niedergebrannten Dörfer, Hunderte von erschossenen Frauen, Kindern und Greisen, sie sahen die
verstümmelten Leichen der gefallenen Rotarmisten. Detailliert wird der Körper eines vergewaltigten und ermordeten elfjährigen Mädchens beschrieben. Alle hätten nun begriffen, dass man es nicht mit
Menschen zu tun habe, sondern „mit satanischen Missgeburten von hündischem Geblüt“. Mit der gleichen Sorgfalt, mit der die Deutschen ihre Autos bauten, töteten und vergewaltigten sie jetzt.
Kurze Zeit später wird Gerasimow verwundet und fällt in deutsche Hände. Ein Offizier lässt alle Gefangenen antreten und befiehlt allen Kommissaren und Juden herauszutreten. Als keiner reagiert, geht
er die Reihen entlang und wählt sechzehn scheinbar jüdisch aussehende Rotarmisten aus. Es sind jedoch überwiegend Armenier und Russen. Sie werden vor aller Augen erschossen. Im weiteren Verlauf der
Gefangenschaft muss Gerasimow schwere Demütigungen über sich ergehen lassen. Wegen einer Verwundung wird er zu einem gefangenen russischen Arzt geschickt, der keine medizinischen Hilfsmittel zur
Verfügung hat. Ein Unteroffizier macht sich darüber lustig und schlägt ihn halbtot. Bei der Essensausgabe treiben die Deutschen unter lautem Gelächter makabre Spiele. Wer nicht mehr weitermarschieren
kann, wird sofort getötet.
Als schließlich ein sowjetischer Gegenangriff beginnt, erheben sich alle Gefangenen und singen die Internationale, die den Völkern ein Zusammenleben im Zeichen der Menschenrechte verheißt. Zwar
werden die Sänger gezwungen, sich hinzulegen, doch: „Die Faschisten konnten uns töten, unbewaffnet und von Hunger entkräftet, wie wir waren, sie konnten uns quälen, aber unseren Geist konnten sie
nicht brechen, und sie werden ihn niemals brechen!“ Mit dieser Haltung gelingt Gerasimow nach einigen Tagen trotz seiner Verwundung die Flucht. Partisanen greifen ihn auf, sie versorgen ihn, bleiben
aber zurückhaltend. Ist er ein heimlicher Verräter? Erst als sich Gerasimow an ihren Anschlägen beteiligt, ändert sich ihr Verhalten. Seit dieser Zeit führt er eine Strichliste über die von ihm
getöteten Deutschen. Sie geht bereits in die Hunderte.
Scholochows Erzählung, resümiert Horst-Jürgen Gerigk, lasse den Hass gegen die Deutschen legitim erscheinen. Sie sei ein „Aufruf zum Hass mit Argumenten“. Denn durch ihre Bestialität hätten die
Deutschen sich aus der menschlichen Gemeinschaft ausgeschlossen. Eigentlich, so Gerasimow, solle man Hass und Liebe nicht nebeneinanderstellen, doch in diesem Krieg habe er richtig zu hassen und
richtig zu lieben gelernt: „Abgrundtief hasse ich die Faschisten für alles, was sie meinem Vaterland und mir persönlich angetan haben. Und gleichzeitig liebe ich mit ganzem Herzen mein Volk; und ich
will nicht, dass es unter dem faschistischen Joch leiden muss. Das zwingt mich und uns alle dazu, mit so einer Härte zu kämpfen. Gerade diese beiden Gefühle bündeln sich in den militärischen Aktionen
und führen uns zum Sieg.“
Gerigk vergleicht Scholochows Text mit den Sewastopol-Erzählungen von Leo Tolstoi. In beiden werde der Mensch in seiner physischen Not und in seiner Angst vorgeführt. Die politischen Umstände, die zu
den Konfrontationen führten, bleiben jeweils ausgeklammert. Selbst der sonst allgegenwärtige Stalin wird mit keinem Wort erwähnt. Die in weiten Teilen erfolgte Loslösung der Erzählung aus dem
historischen Kontext verleiht ihr eine Allgemeinheit und gibt dem Propagandatext eine literarische Qualität. Gerasimows Hass ist eine Gegenreaktion auf die Übermacht der Gewalt. Diese Erfahrung
unterläuft die moralische Person, sie unterläuft alle Kulturleistung. Das Individuum regrediert zu einem Tötungsautomaten.
Scholochows Text hat jedoch auch noch eine ideologiegeschichtliche Komponente. Gerasimows Hass-Liebe-Theorie scheint der marxistischen Dialektik zu entsprechen. Marx, so Karl Liebknecht am Grab des
Philosophen, „war groß in seiner Liebe wie in seinem Hass. Sein Hass war der Liebe entsprungen." Dies ist die Antithese zum christlichen Verständnis der Liebe: Diese will den Hass in der Welt
überwinden. Auch der ehemalige Priesterseminarist Stalin stand zunächst dieser Sicht nahe. 1928 führte er aus, in kapitalistischen Ländern pflege man die Armeen im Geiste des Hasses gegen die Völker
anderer Staaten auszubilden. Die Rote Armee habe dagegen andere Grundlagen: Sie werde im Geiste der Achtung vor anderen Völkern, im Geiste der Liebe und Achtung vor den Arbeitern aller Länder
erzogen. Ähnlich äußerte er sich noch im Frühjahr 1942.
Scholochows „Wissenschaft vom Hass“ markiert daher eine ideologische Wende. Sie erfolgte mit Stalins ausdrücklicher Billigung. Diese „Periode des Hasses“ endet am 13. April 1945, als wiederum die
„Prawda" den Schriftsteller Ilja Ehrenburg wegen seiner Hasstiraden kritisiert. Kurz vor seinem größten Triumph - der Eroberung Berlins - wollte Stalin die Spirale der Gewalt durchbrechen. Denn die
Deutschen leisteten gegen die Rote Armee heftigeren Widerstand als gegen die Westalliierten. Fortan sollte zwischen Deutschen und Nazis unterschieden werden. Denn für einen Befreier eines Landes, das
man unter seine Kontrolle bringen will, taugt die „Wissenschaft vom Hass“ nicht.
WOLFRAM VON SCHELIHA