Fjodor M. Dostojewskij – Epilepsie als Geheimnis
Eine Reise durch Medizin, Literatur und Kunst
Symposium
der „Fjodor M. Dostojewskij-Gesellschaft
Hamburg – St. Petersburg e. V.“
in Zusammenarbeit mit der
„Desitin Arzneimittel GmbH, Hamburg“
Hamburg, 2. April 2017
Mendelssohn-Saal
der Hochschule für Musik und Theater
Harvestehuder Weg 12, 20148 Hamburg
Horst-Jürgen Gerigk
(Universität Heidelberg)
Zur Darstellung der Epilepsie
in Dostojewskijs großen Romanen:
Fürst Myschkin, Kirillow und Smerdjakow
Vorbemerkung
Dostojewskijs Weltruhm beruht in der Hauptsache auf seinen fünf großen Romanen, die von 1866 bis 1880 erschienen sind. Es handelt sich um „Schuld und Sühne“, „Der Idiot“, „Die Dämonen“, „Der
Jüngling“ und „Die Brüder Karamasow“. Alle fünf bilden eine Einheit bezüglich der Thematik und der Erzähltechnik. Ich habe an anderer Stelle sieben Wirkungsfaktoren der Poetik Dostojewskijs geltend
gemacht, nämlich: Verbrechen, Krankheit, Sexualität, Religion, Politik und Komik sowie eine skrupellose Erzähltechnik, mit der dem Leser immer gleichzeitig etwas gezeigt und etwas vorenthalten wird.
Man sieht: die ersten fünf dieser Faktoren betreffen Dostojewskijs Themenfelder. Der sechste Faktor, Komik, betrifft eine besondere Art der Darstellung. Komik setzt Fermaten in den Ernst des
Geschehnisablaufs, verzögert die Pointen. Der siebte Faktor, die Erzähltechnik, liegt auf einer völlig anderen logischen Ebene als die ersten sechs. Dostojewskijs Erzähltechnik hat ihr Prinzip darin,
dass er seinen Leser ständig im Auge behält, ihn ständig überwacht, ihn anlockt und abstößt und durch subtile Spannungstechniken daran hindert, mit dem Lesen aufzuhören, bevor der Roman zu Ende
ist.
Mein heutiger Vortrag aber ist nicht der Erzähltechnik gewidmet und greift aus den fünf Themenfeldern nur ein einziges heraus den Wirkungsfaktor „Krankheit“. Grundsätzlich sei festgestellt:
Dostojewskij demonstriert mit seinen fünf großen Romanen eine kohärente anthropologische Prämisse. Das heißt: Er gestaltet immer wieder den festen Zusammenhang von Körper, Seele und Geist. Hierfür
war ihm Friedrich Schiller das Vorbild, insbesondere dessen Abhandlung „Versuch über den Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen“ aus dem Jahre 1780. Darin heißt es:
„Die Schauer, die denjenigen ergreifen, der auf eine lasterhafte Tat ausgeht oder eine ausgeführt hat, sind nichts anders als eben der Horror, der den Febrizitanten schüttelt (…). Die nächtlichen
Jaktationen derer, die von Gewissensbissen gequält werden, sind wahrhaftige Fieber, die der Konsens der Maschine mit der Seele veranlaßt. (…) Ist also nicht derjenige, der mit der bösen Laune geplagt
ist und aus allen Situationen des Lebens Gift und Galle zieht, ist nicht der Lasterhafte, der in chronischem Zorn, dem Hass, lebt, sowie der Neidische, den jede Vollkommenheit seines Mitmenschen
martert, sind nicht alle diese die größten Feinde ihrer Gesundheit?“
Und Schiller fasst zusammen: „Mit einem Wort: der Zustand des größten Seelenschmerzes ist zugleich der Zustand der größten körperlichen Krankheit.“
Die Anwendbarkeit dieser Überlegungen auf die Romanfiguren Dostojewskijs liegt auf der Hand. Dostojewskij hat allerdings keine systematische Abhandlung hinterlassen, mit der sein
Gestaltungsprinzip auf den Begriff gebracht würde. Man braucht jedoch nur an Raskolnikow zu denken, die Hauptgestalt seines ersten großen Romans „Schuld und Sühne“ (1866), um zu sehen, dass
Dostojewskij Schillers anthropologische Prämisse geradezu wörtlich veranschaulicht. Was sind Raskolnikows Fieberzustände vor seiner Tat und sein köperlicher Zusammenbruch nach seiner Tat mit
mehrtägigen Absenzen anderes als Reaktionen der „Maschine“ auf die Seelenqualen, die er sich mit Plan und Durchführung seiner Tat selber zugefügt hat. Raskolnikows Krankheit ist die Folge seiner
unsittlichen Gedanken, die zur unsittlichen Tat führten.
Dostojewskijs Realismus der Darstellung wird jedoch den Leser zunächst einmal täuschen, als seien Raskolnikows kriminelle Gedanken die Reaktion auf seine fiebrige Erkältung in seinem engen Zimmer. Es
ist aber genau umgekehrt: Raskolnikow verschafft sich ein enges Zimmer und bekommt eine fiebrige Erkältung, weil er sich in den isolierenden Wahnsinn des Eigendünkels, ein Napoleon zu sein,
hineingesteigert hat.
Abstrakt ausgedrückt oder, wie man auch sagen könnte, „logisch nackt“ (im Sinne von Emil Lask), bedeutet das: das Bewusstsein des Menschen ist ohne weiteres dazu fähig, völlig unmoralische
Entschlüsse zu fassen und in die Tat umzusetzen, wodurch aber die Seele des Menschen beleidigt wird, die deshalb den Körper des Täters erkranken lässt. Die körperliche Erkrankung des Täters ist also
ein Symptom des unbestechlichen Gewissens.
Auf seine körperliche Erkrankung als psychosomatische Erschütterung kann der Täter auf dreierlei Weise reagieren. Er kann sich der Polizei stellen, ein Geständnis ablegen und die Strafe auf sich
nehmen, wodurch er in die menschliche Gemeinschaft zurückkehrt, die er durch sein Verbrechen verlassen hat. Diesen Weg geht Raskolnikow. Er wird im sibirischen Zuchthaus gesund.
Ist der Täter zum öffentlichen Geständnis seiner Tat nicht bereit, begeht er Selbstmord. Diesen Weg gehen Swidrigajlow in „Schuld und Sühne“ und Smerdjakow in den „Brüdern Karamasow“.
Die dritte Möglichkeit besteht darin, dass der Täter nach der Tat reuelos ins Ausland entflieht, das für Dostojewskij immer der Ort der Unsittlichkeit ist. Diesen Weg geht Pjotr Werchowenskij, der
Mörder Schatows, in den „Dämonen“: Sein Gesicht sieht aus, als sei er lange krank gewesen. Er ist aber, wie uns Dostojewskij versichert, noch niemals krank gewesen. Das heißt: Krankheit als Symptom
des unbestechlichen Gewissens ist bei Pjotr Werchowenskij zur leblosen Maske erstarrt. Dostojewskij, der Systematiker, schläft nie! Mit der fehlenden Krankheit des Täters Pjotr Werchowenskij verlässt
Dostojewskij nicht sein System, sondern bestätigt es am Beispiel eines unüberbietbaren Sonderfalls. Pjotr Werchowenskij ist kein echter Russe, denn er hat eine polnische Mutter! Und seine Tatwaffe
ist ein amerikanischer Revolver. Fazit: Die absolute Unsittlichkeit kennt keine körperliche Krankheit, weil sie keine Seele hat und deshalb in Russland auch keinen Ort.
Und damit, meine Damen und Herren, bin ich bei meinem heutigen Thema angelangt: Epilepsie in den großen Romanen Dostojewskijs. Drei Gestalten sind zu analysieren: Fürst Myschkin, die Titelfigur des
Romans „Der Idiot“, Kirillow im Roman „Die Dämonen“ und Smerdjakow, der epileptische Mörder in Dostojewskijs letztem Roman, „Die Brüder Karamasow“.
Ich beginne mit Smerdjakow, dem epileptischen Mörder in den „Brüdern Karamasow“, denn in seinem letzten Roman hat Dostojewskij zum ersten Mal eine systematische Antwort auf seine obsessive Frage
geliefert: „Wie kommt das Böse in die Welt?“ Diese Frage hat seit „Schuld und Sühne“ (1866) Dostojewskijs literarisches Schaffen inspiriert. Und von Anfang an war für Dostojewskij klar: Das Böse
kommt in die Welt, weil es vom Menschen gewünscht wird. Aber erst mit den „Brüdern Karamasow“ liegt eine systematische Antwort vor: Der böse Wunsch hat drei Phasen zu durchlaufen, ehe er zur Tat
wird: abgewiesene Bejahung, insgeheime Bejahung, offene Bejahung. Erst danach wird der Wunsch zur Wirklichkeit. Dostojewskijs Konstruktion impliziert, dass bei jedem Mord diese Phasen durchlaufen
werden, ohne dass dies dem Täter bewusst wird.
Zu jeder dieser Phasen erfindet Dostojewskij in seinem letzten Roman eine Person, die er soziologisch definiert; als einen Typus. Abgewiesene Bejahung: das ist der „Mönch“ – Aleksej Karamasow, 19
Jahre alt. Insgeheime Bejahung: das ist der „Intellektuelle“ – Iwan Karamasow, 24 Jahre alt. Offene Bejahung: das ist der „Soldat“ – Dmitrij Karamasow, 27 Jahre alt. Der schließliche Täter aber
(vierte Phase), das ist der „Lakai“ -- Smerdjakow, 24 Jahre alt. Iwan Karamasow stellt ihn bereit, und Dmitrij Karamasow verschafft ihm die Gelegenheit, unerkannt tätig zu werden.
Dieses abstrakte Schema wird von Dostojewskij äußerst sorgfältig in Charaktere und Handlung umgesetzt, so dass alles auf realistische Weise psychologisch überzeugt.
Dmitrij wird für den Täter gehalten und zu 20 Jahren Zuchthaus in Sibirien verurteilt. Ein Justizirrtum findet statt, den Dostojewskij handfest konstruiert, sodass juristisch keine Einwände möglich
sind. Zwei Anwälte haben Dostojewskijs Manuskript gelesen und überprüft.
Dostojewskij hält jedoch eine Pointe bereit, die auch sein Chronist nicht sieht und die nur wir, die Leser, sehen können: auf der allegorischen Ebene handelt es sich nicht um einen Justizirrtum, weil
ohne Dmitrijs Verhalten der Mord nicht zustande gekommen wäre. Und deshalb hat Dmitrij Karamasow die Strafe für einen Mord zu akzeptieren, den er gar nicht begangen hat. Dostojewskijs Botschaft: Der
Weltlauf mag ungerecht aussehen, bei näherer Betrachtung aber erweist sich alles als die Gerechtigkeit Gottes. Der Justizirrtum, der, allegorisch betrachtet, keiner ist, wird also im Resultat zur
Theodizee.
Der Hollywood-Film von 1958 (Regie: Richard Brooks) mit Yul Brynner als Dmitrij Karamasow hatte allerdings für Dostojewskijs Theodizee nichts übrig und ließ Dmitrij nach dem Urteil entfliehen: ins
Ausland (was der Roman zwar durchaus diskutiert, aber nicht ausführt).
Ja, Dostojewskijs Konstruktion impliziert neben der Theodizee noch weiteres, dass nämlich die insgesamt vier Brüder Karamasow (einschließlich Smerdjakow) Komponenten einer einzigen Person sind, die
von ihrem Gewissen verurteilt wird, nachdem sie einen Mord begangen hat. Die Gerichtsverhandlung des Zwölften Buches wird damit zu einem Geschehen der reinen Innerlichkeit – und das ganz im Sinne
Immanuel Kants, der in der „Metaphysik der Sitten“ vom „inneren Gerichtshof im Menschen“ spricht, vor „welchem sich seine Gedanken einander verklagen oder entschuldigen“. Wo das Gewissen schuldig
spricht, hat, so erläutert Kant, die Führung einer Rechtssache vor Gericht“ stattgefunden. Die Eigenart dieser Gerichtsverhandlung besteht nun darin, dass Angeklagter, Ankläger und Richter als ein
und dieselbe Person zu denken sind. Dennoch ist es nicht so, dass der Ankläger deshalb jederzeit verlieren würde. Vielmehr halte der Mensch das „Richteramt aus angeborener Autorität selbst in
Händen“. Kants Überlegung hat ihre Pointe darin, dass das Gewissen als „subjektives Prinzip einer vor Gott seiner Taten wegen zu leistenden Verantwortung“ gedacht werden muss, wodurch eine
Verurteilung des Menschen durch sich selbst „nach der Strenge des Rechts“ möglich wird.
Eine weitere überraschende Pointe liefern uns die „Brüder Karamasow“, wenn wir Dostojewskijs Leben berücksichtigen.
Dmitrij Karamasow ist nämlich 27 Jahre alt, als er verhaftet wird, vor Gericht kommt und man ihn verurteilt. Und das heißt: Dmitrij ist genauso alt wie Dostojewskij, als er im Jahre 1849 nachts um
zwei Uhr in seiner Petersburger Wohnung verhaftet wird, in die Peter-Pauls-Festung gebracht und zum Tode verurteilt wird, dann aber auf dem Richtplatz auf Befehl des Zaren begnadigt wurde: zu vier
Jahren Zuchthaus in Sibirien – als Mitglied des Petraschewskij-Kreises, einer terroristischen Vereinigung, die die Ermordung des Zaren geplant hatte.
Eine besondere Bedeutung gewinnt in diesem Zusammenhang Dostojewskijs Brief vom 24. März 1856 aus Semipalatinsk an General Eduard von Todtleben (1818-1884), einen guten Bekannten noch aus seiner
Studienzeit auf der Ingenieursschule der Militärakademie in Petersburg. Dostojewskij kommt in diesem Brief auf seine Verhaftung und Verurteilung im Jahre 1849 zu sprechen und vermerkt:
„Ich war schuldig, das ist mir völlig klar. Man überführte mich der Absicht (doch mehr nicht), gegen die Regierung aktiv zu werden. Das Urteil entsprach dem Gesetz und war gerecht: eine lange Drangsal, schwer und qualvoll, hat mich ernüchtert und meine Ansichten in vielem verändert. Doch damals – damals war ich blind und glaubte an Illusionen und Utopien.“
Genau dies aber wird durch das Schicksal Dmitrij Karamasows zum Ausdruck gebracht: Er hatte die „Absicht“ (russ: namerenie), seinen Vater zu ermorden. Ohne Dmitrijs Absicht wäre sein Vater noch am
Leben, denn Smerdjakow hat ja, wie er selber sagt, in der Rolle Dmitrijs gemordet. Das heißt: Mit der komplizierten Konstruktion der drei Brüder Karamasow, von denen der älteste, Dmitrij, den Mord
auslöst, schließt Dostojewskij den Frieden mit sich selber. Er beweist jetzt mit seinem letzten Roman, dass die Absicht, die er 1849 hatte, zu recht bestraft worden ist: mit vier Jahren Zuchthaus in
Sibirien.
Erst wenn wir Dostojewskijs komplizierte und provozierende Konstruktion seines letzten Romans im Detail nachvollzogen haben, können wir die Funktion des epileptischen Mörders Smerdjakow adäquat
beurteilen.
Smerdjakow
Smerdjakow ist unter den Mördern, die uns Dostojewskij präsentiert (Raskolnikow, Swidrigajlow, Rogoshin, Pjotr Wechowenskij), der einzige, der über seine Tat detailliert berichtet: im Geständnis
gegenüber Iwan (Buch 11, Kapitel 8: Der dritte und letzte Besuch bei Smerdjakow). Smerdjakow verfolgt mit seinem Geständnis die Absicht, Iwan ein schlechtes Gewissen zu verschaffen,weil er, Iwan, der
Hauptschuldige sei: „Sie haben ihn ermordet. Sie sind der Hauptmörder, und ich war nur Ihr Helfershelfer, Ihr treuer Diener, und habe diese Tat nach Ihrer Weisung begangen.“ Und tatsächlich sieht
Iwan beim Anhören des Geständnisses Smerdjakows seine eigenen geheimsten Gedanken verwirklicht: zur Tat. Und deshalb hasst er nun Smerdjakow.
Mit Smerdjakows Geständnis lässt Dostojewskij unabhängig davon deutlich werden, wie sehr Smerdjakow von der Sucht zu töten ergriffen ist. Smerdjakow verwirklicht im Zuschlagen das Böse um seiner
selbst willen, ist damit ein Instrument des Teufels, der ja Iwan Karamasow nach dem Geständnis Smerdjakows leibhaftig in die Stube steigt. Und Smerdjakow berichtet:
„Da packte ich diesen gußeisernen Briefbeschwerer, der bei ihm auf dem Tische lag (…),. holte aus und schlug ihm von hinten mit der Kante genau auf den Scheitel. Er schrie nicht einmal auf. Er sackte nur jäh zusammen, und ich schlug ein zweites – und dann ein drittes Mal zu. Beim dritten Mal fühlte ich, dass ich ihm den Schädel eingeschlagen hatte. Er fiel plötzlich rücklings hin, mit dem Gesicht nach oben, ganz von Blut überströmt.“
Wie immer bei Dostojewskij, ist das Mordopfer völlig wehrlos und wird in einer Situation vom Tod ereilt, die für sein Leben typisch gewesen ist: Fjodor Karamasow blickt in den dunklen Garten und ruft, bevor er stirbt: „Gruschenka, wo bist du?“
Hinter dieser Szene hält Dostojewskij allerdings noch eine ganz andere Geschichte parat, die in diesem Kontext mit keinem Wort erwähnt wird. Vor 25 Jahren hatte Fjodor Karamasow nach einer seiner
nächtlichen Orgien inmitten einer Bande von Trunkenbolden Lisa, die „Stinkende“, vergewaltigt, eine halbirre Spottgestalt, die an Bachrändern im Unkraut schlief. Lisa wird schwanger und klettert vor
der Geburt ihres Kindes über einen Zaun des Gutshofes ihres Vergewaltigers. Kurz nach der Geburt stirbt sie. Und ihr Kind, ein Sohn, wird vom Diener Grigorij und seiner Frau großgezogen und
schließlich im Hause Karamasow als Koch angestellt. Das heißt: Smerdjakow rächt mit der Ermordung Fjodor Karamasows die Vergewaltigung seiner Mutter. Der Name Smerdjakow richtet sich aus am
Spitznamen seiner Mutter: Smerdjaščaja = die Stinkende. Fjodor Karamasow, das Opfer, wird mit dieser Geschichte zum Täter. Er selbst aber winkt ab: nicht er sei der Vater Smerdjakows, sondern „Karp
mit der Schraube“, der Zuchthäusler. Diese Geschichte aber wird im Roman nur andeutungsweise berührt. Sie gehört zu den Gerüchten, gefiel aber insbesondere Marcel Proust, der in seinem Hauptwerk „Auf
der Suche nach der verlorenen Zeit“ fast ein ganzes Kapitel Dostojewskij widmet (im Band „Die Gefangene“).
Über seinen epileptischen Anfall nach der Tat berichtet Smerdjakow selbst, als ihn Iwan ausfragt. Iwan sagt: „Erzähle ausführlich, wie du es getan hast. Alles der Reihe nach. Und vergiß nichts. Die
Einzelheiten sind das Wichtigste, die Einzelheiten.“
Und Smerdjakow erzählt:
„Sie fuhren weg, und da fiel ich in den Keller...“
„In einem wirklichen Anfall, oder hattest du ihn vorgetäuscht?“
„Natürlich nur vorgetäuscht. Das alles habe ich nur gespielt. Ich stieg ruhig die Treppe hinab, bis ganz unten, und legte mich ruhig hin, und als ich lag, begann ich zu schreien. Und ich schlug um
mich, bis man mich hinaus trug.“
„Halt! Und die ganze Zeit, auch später im Krankenhaus, hast du nur simuliert?“
„Keineswegs. Am nächsten Tag, am Morgen, noch ehe ich ins Krankenhaus kam, bekam ich einen echten Anfall, einen so heftigen, wie ich ihn schon seit vielen Jahren nicht gehabt hatte. Zwei Tage war ich
völlig bewusstlos.“
„Gut, gut. Erzähl weiter.“
„Man legte mich in das Bett hinter der Bretterwand; ich hatte ja schon gewusst, dass man mich dorthin legen würde. Weil Marfa Ignatjewna mich jedesmal, wenn ich krank war, über Nacht hinter diese
Bretterwand in ihrer Kammer legte.(…) Nachts stöhnte ich, aber nur leise. Ich wartete immerzu auf Dmitrij Fjodorowitsch.“ „Wieso? Hast du erwartet, dass er zu dir kommen werde?“
„Warum zu mir? Ich erwartete, dass er ins Haus kommen werde, weil es für mich keinen Zweifel mehr gab, dass er in dieser Nacht kommen werde. (….).“
„Und wenn er nicht gekommen wäre?“
„Dann wäre auch nichts geschehen. Ohne ihn hätte ich mich nicht dazu entschlossen.“
Mit diesem Dialog wird insbesondere deutlich: Wenn Dmitrij nicht gekommen wäre, hätte Smerdjakow den Mord nicht begangen. Dmitrij ist der Auslöser des Mordes. Ohne Dmitrij kein Mord!
Grundsätzlich ist festzustellen: In der Welt Dostojewskijs bedeutet Krankheit immer Teilhabe an einer autonomen Sinngebung, die den Willen der betroffenen Individuen übersteigt. Denn diese Sinngebung
ist, so sonderbar das klingen mag, „moralisch“: eingelagert in das „lebendige Leben“, das im Christentum seine Grundlage hat. Das heißt: die Seele reagiert moralisch auf das Denken und Verhalten der
Individuen, indem sie körperliche Krankheit auslöst, sobald unmoralisch empfunden und gehandelt wird.
Wenn Smerdjakow nach seiner Tat zwei Tage lang ohne Bewusstsein war, so bedeutet das: dass seine Seele auf sein Verhalten „gesund“ reagiert hat, indem er zwei Tage lang ohne die unerträgliche
Außenwelt dahinlebte. Der epileptische Anfall befreit von der Außenwelt, indem er das Bewusstsein auflöst. Smerdjakows epileptische Anfälle nach der Tat sind als Beginn eines Gesundungsprozesses zu
sehen, den er selbst aber unterbindet, indem er darauf verzichtet, sich der Polizei zu stellen und die vorgesehene Strafe auf sich zu nehmen. Sein Schicksal ist nicht zu bedauern, weil er es aus
niedrigen Beweggründen selbst verschuldet hat. Er hat seine Freiheit, zwischen Gut und Böse zu wählen, nicht genutzt. Soviel zum epileptischen Mörder Smerdjakow.
Kurze Nachbemerkung: Schauplatz des Romans „Die Brüder Karamasow“ ist die Stadt Staraj Russa, der Dostojewskij den von ihm erfundenen Namen „Skotoprigonjewsk“ gegeben hat. Auf Deutch: „Viehhofen“,
eine Bezeichnung, die Swetlana Geier auf meinen Rat in ihrer neuen Übersetzung (Zürich 2003) übernommen hat. Die Handlung der „Brüder Karamasow“ spielt im Jahre 1866 und wird von einem Chronisten im
Jahre 1879, also 13 Jahre später, rückblickend erzählt. 1866 wurden in Russland aufgrund der Gerichtsreform die ersten Geschworenengerichte tätig. Noch Raskolnikow wird im Jahre 1865 von einem
Richter und zwei Beisitzern verurteilt.
Wenden wir uns nun dem Fürsten Myschkin zu, dessen Epilepsie von Dostojewskij am ausführlichsten gestaltet wird.
Fürst Myschkin
Im Roman „Der Idiot“ (1868/69) erzählt uns Dostojewskij eine Eifersuchtsgeschichte. Fürst Lew Nikolajewitsch Myschkin, 26 Jahre alt, der an Epilepsie leidet, kehrt nach einem fünfjährigen
Aufenthalt in einem Schweizer Sanatorium völlig mittelllos nach Petersburg zurück, wo er sich sofort in ein Netz von Intrigen um die bleichgesichtige und dunkeläugige Schönhei Anastasija (Nastasja)
Filippovna Baraschkowa verstrickt sieht, die von Afanasij Totzkij, ihrem Pflegevater, mißbraucht wurde und mit diesem Erlebnis ihre natürliche Liebesfähigkeit verlor. Die Liebe zu Nastasja zwingt den
hellblonden und lauteren Myschkin in eine magische Bindung zu seinem dunkelhaarigen und triebhaften RiIvalen Parfenij Semjonowitsch Rogoschin, ebenfalls 26 Jahre alt, einem reichen Kaufmannsssohn.
Die Faszination, die für Nastasja von der tiefgründigen Torheit des Fürsten ausgeht, der durch eine plötzliche Erbschaft zum Millionär wird, weckt in Rogoschin den Wunsch, seinen Rivalen
umzurbringen. Der Mordanschlag mißlingt, da Myschkin einen epileptischen Anfall erleidet und Rogoschin bei diesem Anblick von Entsetzen gepackt wird und die Flucht ergreift. Dieser Anfall sei nun
näher betrachtet.
Wir befinden uns im 6. Kapitel des Zweiten Teils Schauplatz: Petersburg, Genau gesagt: ein Gasthaus, in dem sich Fürst Myschkin eingemietet hat. Er ist soeben von einem Gang durch die Stadt auf der
Suche nach Nastasja, die er nicht antraf, zurückgekehrt. Ein Unwetter zieht herauf. Schlechtes Licht. Auf seinem Spaziergang hat sich Myschkin seine Gedanken über Rogoschin gemacht. Jetzt schämt er
sich, dass er Rogoschin böse Absichten ihm gegenüber unterstellt hat. Er möchte zu Rogoschin gehen und ihn umarmen. Man sieht: Dostojewskij rückt Myschkins edle Gesinnung nach vorn. Myschkin kann und
will seiner Umwelt nichts Böses unterstellen.
Das Gasthaus bekommt plötzlich eine bedrohliche Physiognomie durch die Art, wie es von Myschkin wahrgenommen und betrachtet wird:
„Wie wenig hatte ihm von Anfang an dieses Gasthaus gefallen, diese Korridore, dieses ganze Haus, sein Zimmer, das alles hatte ihm auf den ersten Blick nicht gefallen; im Laufe dieses Tages hatte er mehrmals mit ganz besonderem Widerwillen daran denken müssen, dass er hierher zurückkommen würde.“
Unter dem Torbogen bleibt er stehen.
„Eine neue unerträgliche Woge von Scham, beinahe Verzweiflung, bannte ihn auf der Stelle, unmittelbar im Toreingang. Er stand eine Minute reglos da. Manchmal widerfährt dies den Menschen. Unerträgliche, jähe Erinnerungen, insbesondere, wenn sie von Schamgefühl begleitet sind, zwingen sie, reglos stehenzubleiben, minutenlang. ,Ja, ich bin herzlos und ein Feigling', sagte er sich finster und machte einen Schritt vorwärts um... abermals stehenzubleiben.“
Ganz offensichtlich ahnt Myschkin, dass Rogoschin ihn umbringen will, schämt sich aber dieser Regung. Dostojewskij schildert hier die Aura, die dem epileptischen Anfall vorausgeht, ihn ankündigt:
„In dieser ohnehin dunklen Toreinfahrt war es in diesem Augenblick besonders dunkel. Die aufziehende Gewitterwolke hatte das Abendlicht aufgesogen, genau in dem Moment, als der Gast das Haus erreichte, war sie plötzlich geborsten und hatte sch in strömenden Regen ergossen. In dem Augenblick, als er die hastige Bewegung nach vorn machte, nach der kurzen Reglosigkeit, befand er sich immer noch am Anfang der Toreinfahrt, unmittelbar hinter dem Eingang von der Straße. Und plötzlich gewahrte er in der Tiefe der Toreinfahrt, im Halbdunkel unmittelbar vor dem Eingang zum Treppenhaus, eine menschliche Gestalt. Dieser Mensch schien auf etwas zu warten, huschte aber davon und verschwand…. Diesen Menschen konnte der Fürst im Dunkeln nicht richtig erkennen, und wäre natürlich außerstande gewesen, mit Sicherheit zu sagen, wer es war. Überdies gingen hier viele Menschen aus und ein; es war eben ein Gasthaus, man kam und hastete unaufhörlich zu den Korridoren hinauf und herunter. Aber plötzlich war er vollkommen und unerschütterlich davon überzeugt, dass er diesen Menschen erkannt hatte und dass dieser Mensch Rogoschin sein mußte. Einen Augenblick später stürzte der Fürst ihm nach, ins Treppenhaus. Sein Herz stockte. ,Gleich wird sich alles entscheiden!“ sprach er mit eigentümlicher Sicherheit vor sich hin.“
Und nun geschieht es.
„Die Treppe, die der Gast, aus der Toreinfahrt kommend, hinaufeilte, führte zu den Korridoren des ersten und zweiten Stockwerks, an denen die Zimmer lagen. Es war eine Steintreppe, wie in allen
Häusern dieser Bauart, sie war eng und dunkel und wand sich um eine dicke, steinerne Säule. Auf dem ersten Absatz war diese Säule ausgehöhlt und bildete eine Art Nische, nicht mehr als einenSchritt
breit und einen halben Schritt tief, ein Mensch hätte dort jedoch Platz gefunden. So dunkel es auch war, sah der Fürst doch, kaum dass er den Treppenabsatz erreicht hatte, dass sich hier, in dieser
Nische, ein Mensch versteckt hielt. Plötzlich wünschte der Fürst, er wäre schon, ohne den Blick nach rechts zu wenden, vorbeigegangen. Schon hatte er einen Schritt getan, als er es nicht länger
ertrug und sich umwendete.
Die zwei Augen von vorhin, diese Augen, begegneten plötzlich seinem Blick. Der Mensch, der sich in der Nische versteckt hatte, trat ebenfalls einen Schritt aus der Nische hervor. Eine Sekunde lang
standen sie sich so dicht gegenüber, dass sie einander beinahe berührten. Plötzlich packte der Fürst ihn bei den Schultern und drehte ihn um, zur Treppe hin, zum Licht. Er wollte das Gesicht
deutlicher sehen.
Rogoschins Augen funkelten, und sein wütendes Lächeln verzerrte sein Gesicht. Seine rechte Hand fuhr in die Höhe und etwas blitzte darin auf; der Fürst dachte nicht daran, sie aufzuhalten. Später
erinnerte er sich daran, dass er nur aufgeschrien hatte:
,Parfjon, ich glaube es nicht!'
Dann schien etwas von ihm plötzlich zu bersten. Ein unwahrscheinliches inneres Licht erfüllte seine Seele. Dieser Augenblick dauerte vielleicht eine halbe Sekunde; jedoch erinnerte er sich später
deutlich und bewusst an den Anfang, den allerersten Ton jenes furchtbaren Schreis, der sich eigenmächtig seiner Brust entrang und den keine Gewalt hätte unterdrücken können. Dann erlosch schlagartig
sein Bewusstsein unf völlige Finsternis trat ein.“
Sofort danach ändert Dostojewskij die Erzählperspektive. Es folgt ein Kommentar im sachkundigen Tonfall eines Lehrbuchs:
„Es war ein epileptischer Anfall, wie er ihn schon lange nicht mehr heimgesucht hatte. Es ist bekannt, dass die epileptischen Anfälle, die eigentliche Fallsucht, augenblicklich eintreten. In solchen Augenblicken verändert sich plötzlich auf unheimliche Weise das Gesicht, insbesondere der Blick. Konvulsionen und Krämpfe erfassen den ganzen Körper, auch sämtiche Gesichtszüge. Ein furchtbarer, unvorstellbarer und mit nichts vergleichbarer Schrei entringt sich der Brust; in diesem Schrei entschwindet gleichsam alles Menschliche, und es ist dem Beobachter unmöglich, wenigstens sehr schwer, sich vorzustellen und zuzugeben, das dieser Mensch vor ihm so schreien kann. Es kommt ihm sogar vor, als schreie ein anderer, der sich im Inneren dieses Menschen befindet. Jedenfalls wird dieser Eindruck von vielen so geschildert; und viele werden beim Anblick eines Fallsüchtigen von äußerstem, unerträglichem Grauen gepackt, das sogar etwas Mystisches hat. Man darf annehmen, dass dieses unerwartet auftretende Grauen, verbunden mit all den anderen furchtbaren Eindrücken jenes Augenblicks, Rogoschin plötzlich lähmte und so den Fürsten vor dem unentrinnbaren Messerstich, zu dem Rogoschin bereits ausgeholt hatte, rettete. Und Rogoschin, ehe er noch den Zusammenhang begriff, aber schon sah, dass der Fürst zurückwich und plötzlich rückwärts stürzte, die Treppe hinab, und mit Wucht mit dem Hinterkopf gegen die steinernen Stufen schlug, rannte atemlos die Treppe hinunter, an dem Liegenden vorbei und stürzte wie von Sinnen aus dem Gasthaus.“
Mit der Darstellung des Mordversuchs und des epileptischen Anfalls liefert Dostojewskij ein erzähltechnisches Meisterstück, das sich nicht übertreffen lässt. Auf engstem Raum werden die verschiedensten erzähltechnischen Kunstgriffe in Anschlag gebracht. Ich nenne nur den unverhofften Übergang von Myschkins Sicht auf den neutralen Kommentator, der wie aus einem Lehrbuch berichtet. Dostojewskij besitzt die Fähigkeit, wie ansonsten nur noch Edgar Allan Poe, über schreckliche Dinge so zu berichten, als seien sie das alltäglichste von der Welt. Man denke nur an den Sturz Myschkins die Treppe hinunter. Wörtlich heißt es:
„Die Konvulsionen, die Krämpfe und das Zittern bewirkten, dass der Körper des Kranken die Stufen, nicht mehr als fünfzehn, bis zum Ende der Treppe hinunterrutschte. Sehr bald, nach kaum mehr als fünf Minuten, wurde der Liegende bemerkt und von einer Menge Menschen umringt. Eine kleine Blutlache an seinem Kopf weckte allgemeinen Zweifel: Hatte sich dieser Mensch verletzt, oder ,war's jemandes Sünde' gewesen. Es dauerte freilich nicht lange, bis einigen Anwesenden klar wurde, dass es sich um Fallsucht handelte, einer der Hausdiener erkannte in dem Fürsten den jüngst eingetroffenen Gast“. Und er wird sofort ärztlich versorgt.
Vom Mordversuch ist keine Rede: den Auslöser des epileptischen Anfalls hat niemand bemerkt.
Man sieht: Dostojewskij wiederholt sich nicht. Ganz anders werden später Smerdjakows epileptische Anfälle referiert, die zudem zwei Tage lang wiederkehrten.
Wie aber bringt Dostojewskij seine Geschichte vom Fürsten Myschkin zu Ende? Rogoschin ersticht Nastasja im Bett -- nach einer Liebesnacht: im düsteren Hause seiner kindisch gewordenen Mutter. Und
Myschkin selbst findet am Ende, geführt von Rogoschin, ins Mordgemach und verbringt lange Stunden zusammen mit Rogoschin neben der Leiche, die mit einem amerikanischen Wachstuch zugedeckt ist. Am
nächsten Morgen kommt die Tat ans Licht der Öffentlichkeit:
„Als die Tür aufging und Menschen hereinkamen, fanden sie den Mörder in tiefer Bewusstlosigkeit und hohem Fieber vor. Der Fürst saß unbeweglich neben ihm auf dem Kissen und strich dem Kranken jedesmal, sobald er aufschrie oder redete, behutsam mit zitternder Hand über Haar und Wangen, als wollte er ihn liebkosen und beschwichigen. Aber der Fürst verstand nichts mehr von dem, was man ihn fragte, und erkannte die eingetretenen und ihn umgebenden Menschen nicht mehr. Und wäre Schneider jetzt persönlich aus der Schweiz erschienen, um nach seinem ehemaligen Schüler und Patienten zu sehen, dann hätte auch er, in Gedanken an den zeitweiligen Zustand des Fürsten im ersten Jahr seiner Kur in der Schweiz, mit den Schultern gezuckt und wie damals gesagt: .Ein Idiot!'“
Rogoschin wird zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt, und Myschkin sieht sich in die Schweiz zurückgebracht: ins Sanatorium Dr. Schneiders. Das heißt: Irrenhaus und Sibirien sind hier die Endstationen
der Sehnsucht.
Epilepsie ist Revolte, ein Nein-Sagen zur Wirklichkeit: implizit bei Smerdjakow, explizit bei Myschkin („Parfjon, ich glaube es nicht!“).
Mit Rogoschins düsterem Haus aktiviert Dostojewskij ein Requisit des englischen Schauerromans (Gothic novel). Horace Walpoles „The Castle of Otranto“, Ann Radcliffes „The Mysteries of Udolpho“ und
Charles Maturins „Melmoth the Wanderer“ waren Lieblingsbücher des jungen Dostojewskij. Der heutige Leser wird sich mit der letzten Szene des Romans „Der „Idiot“ an Alfred Hitchcocks „Psycho“ (1960)
erinnert sehen, wo das düstere Haus des englischen Schauerromans den maßgebenden Hintergrund bildet.
Dostojewskijs Fazit aber impliziert: Die geistige Situation im Russland seiner Zeit ist so ausweglos, dass Myschkins Epilepsie die adäquate Antwort ist. Wo aber bleibt das Christentum? Im Hause
Rogoschins befindet sich bezeichnenderweise eine Kopie von Holbeins Gemälde „Der Leichnam Christi im Grabe“ (1521), von dem es im Roman heißt: bei seinem Anblick könne man den Glauben verlieren.
Kirillow
Werfen wir nun noch einen kurzen Blick auf Kirillow, ehe ich meine Schlußfolgerungen vorstelle. Kirillows Epilepsie wird nicht prominent dargestellt wie Smerdjakows und Myschkins. Es überrascht nicht, dass Albert Camus ein ganzes Kapitel über Kirillow veröffentlicht hat, ohne dessen Epilepsie auch nur zu erwähnen („Der Mythos von Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde.“ Hamburg: Rowohlt 1969. Darin: Kirillow, S. 87-93). Kirillow lebt im Gedanken an den Tod. Er fühlt, dass Gott notwendig ist und dass es ihn geben sollte. Gleichzeitig aber weiß er, dass Gott nicht existiert. Seine tödliche Logik, durch Selbstmord Gott zu sein, führt dazu, dass er sich, kurz bevor er sich erschießt, schriftlich dazu bekennt, Schatow ermordet zu haben (der von Pjotr Werchowenskij erschossen wurde). Das bedeutet: Dostojewskij stattet Kirillow mit der Krankheit Epilepsie aus, um durch das sichtbare psychosomatische Geschehen dessen verborgene hohe Sensibilität zu kennzeichnen. Der Selbstmord allein hätte solche Kennzeichnung nicht leisten können.
Schlusswort
Meine Damen und Herren: Damit bin ich am Ende meiner heutigen Überlegungen zu Myschkin, Kirillow und Smerdjakow angelangt. Zum Abschluss möchte ich Ihnen aber noch einen Aufsatz von Dieter Janz
nahebringen, der 2004 zum ersten Mal erschienen ist, und aufgrund seiner exemplarischen Problemformulierungen 2006 in den „Dostoevsky Studies. The Journal of the International Dostoevsky Society“
nachgedruckt wurde und damit nun leicht erreichbar vorliegt. Titel: „Zum Konflikt von Kreativität und Krankheit: Dostojewskijs Epilepsie“.
Mit diesem Aufsatz hat sich mein Blick auf Dostojewskijs literarische Darstellung der Epilepsie völlig verändert, obwohl sie für Janz gar nicht im Zentrum steht, denn es geht ihm in der Hauptsache um
Dostojewskijs Umgang mit seiner Krankheit, die er zeitweise verleugnete und dann wieder als Grundlage seiner literarischen Kreativität empfand.
Herausragend zwei maßgebende Fakten: Dostojewskij geht mit seinen diversen Kankheiten immer sofort zum Arzt, nicht aber mit seiner Epilepsie, nachdem er seit 1861 den ärztlichen Rat erhalten hatte,
er müsse mit dem Schreiben aufhören, um von der Epilepsie geheilt zu werden. Seine Epilepsie ist ihm Drohung und Inspiration zugleich. Des weiteren wegweisend, was die Einordnung der Epilepsie
betrifft, die Unterscheidung zwischen: „genuin“
(= angeboren, hereditär) und „traumatisch“ (= erworben). Dostojewskij selbst schwankt immer wieder, ob er seine Krankheit als „genuin“ oder als „traumatisch“ einschätzen soll, wobei die Hoffnung auf
Heilung oder Dämpfung bei „traumatischer“ Epilepsie damals größer war. Immerhin ließ ihn das Schicksal seines Vaters schließen, dass er „genuin“ infiziert war.
Aus dieser Unterscheidung wurde mir klar, dass Dostojewskijs literarische Darstellung der Epilepsie eine ausschließlich „traumatische“ Grundlage hat. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Die
Darstellung „genuiner“ Epilepsie würde der anthropologischen Prämisse Dostojewskijs zuwiderlaufen. Über unsere Erbanlagen können wir nicht verfügen. Und deshalb hat Dostojewskij ein poetisches
Universum erschaffen, das den Menschen in seiner Freiheit zum unwiderruflichen Thema hat.
Die spezielle literarische Gestaltung der Epilepsie wird also von Dostojewskij in ihrer Eindeutigkeit wider besseres Wissen durchgeführt: als positive Integration seiner eigenen Krankheit -- im Namen
des freien Individuums, das für sein Schicksal verantwortlich ist und nicht als Spielball äußerer Umstände, die nicht zu ändern sind, definiert werden darf. Dostojewskijs Begriff der Freiheit
verweist uns, wie auch der Freiheitsbegriff Friedrich Schillers, an Immanuel Kant.
Kant definiert Freiheit wie folgt:
“Freiheit ist das Vermögen, nur durch Vernunft determiniert zu werden, und nicht bloß mittelbar, sondern unmitelbar, also nicht durch Materie, sondern Form des Gesetzes. Also moralisch.“
„Mittelbar“ durch Vernunft „determiniert“ handelt Smerdjakow, als er Fjodor Karamasow ermordet – und deshalb wird er nach der Tat von mehreren kohärenten epileptischen Anfällen heimgesucht.
„Unmittelbar“ durch Vernunft „determiniert“ handelt Dmitrij, als er seinen Vater plötzlich nicht umbringt und mit der Waffe in der Hand (einem Mörserstößel) davonläuft.
Das heißt: Der Freiheitsbegriff Kants integriert auch das poetische Universum Dostojewskijs. Weitere Beispiele aus den fünf großen Romanen Dostojewskijs ließen sich finden. Meine Ausführungen aber
sind hier zu Ende, und ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Nachbemerkung
Die Diskussion nach meinem Vortrag ließ deutlich werden, dass Dostojewskijs allegorische Lesart der Gerichtsverhandlung im Zwölften Buch der „Brüder Karamasow“ als Darstellung des „inneren Gerichtshofes im Menschen“ in meinen Ausführungen zu knapp gewesen ist. Deshalb sei hier auf meine ausführliche Erläuterung in meiner Monografie „Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller“ verwiesen: S. 208-227 (Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 2013).
Bibliographie
Primärtexte
Dostojewskij, Fjodor: Der Idiot. Roman. Aus dem Russischen neu übersetzt von Swetlana Geier. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 2010.
Dostojewskij, Fjodor: Die Dämonen. Aus dem Russischen übertragen von Marianne Kegel. Mit einem Nachwort von Horst-Jürgen Gerigk. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1977.
Dostojewskij, Fjodor: Die Brüder Karamasow. Roman. Aus dem Russischen übertragen von Hans Ruoff und Richard Hoffmann. Mit einem Nachwort von Horst-JürgenGerigk. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1999.
Zur Forschung
Gerigk, Horst-Jürgen: Dostojewskij, der „vertrackte Russe“. Die Geschichte seiner Wirkung im deutschen Sprachraum vom Fin-de-siècle bis heute. Tübingen: Attempto Verlag 2000.
Gerigk, Horst-Jürgen: Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller. Vom „Toten Haus“ zu den „Brüdern Karamasow“. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 2013 (= Fischer Klassik). Russische Übersetzung seit Juni 2016: Literaturnoe masterstvo Dostoevskogo v razvitii. Ot „Zapisok iz Mertvogo doma“ do „Brat'ev Karamazovych“. Avtorizovannyj perevod s nemeckogo i naučnaja redakcija K. Ju. Lappo-Danilevskogo. Sankt-Peterburg: Izdatel'stvo Puškinskogo Doma Nestor-Istorija 2016 (= Sovremennaja rusistika. Tom 4).
Janz, Dieter: Zum Konflikt von Kreativität und Krankheit. Dostojewskijs Epilepsie. In: Dostoevsky Studies. New Series. Vol. 10 (2006), S. 125-140. Zuerst in Festschrift für Peter Cornelius Claussen. Zürich, New York: Olms 2004, S. 71-84.
Kant, Immanuel: Die Metaphysik der Sitten. In: Kant, Werke, 5 Bde. Herausgegeben von Wilhelm Weischedel. Bd. 4: Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie. Wiesbaden: Insel Verlag 1956. S. 307-634. Hier S. 573 (Von den Pflichten des Menschen gegen sich selbst als dem angeborenen Richter über sich selbst).
Materialien zu Kants „Krtitik der praktischen Vernunft“., Herausgegeben von Rüdiger Bittner und Konrad Cramer. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1975 (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft 59). Darin: Texte zur Moralphilosophie aus Kants handschriftlichem Nachlaß, S. 11-136, hier S. 87.
Rice, James L.: Dostoevsky and the Healing Art: An Essay in Literary and Medical History. Ann Arbor, Michigan: Ardis Publishers 1985.
Engelhardt, Dietrich von / Schneble, Hansjörg und Peter Wolf (Hrsg.): „Das ist eine alte Krankheit“. Epilepsie in der Literatur.
Mit einer Zusammenstellung literarischer Quellen und einer Bibliographie zur Forschungslage. Stuttgart und New York: Schattauer 2000. Darin DieterJanz: Anmerkungen zu Epilepsiegestalten bei
Dostojewskij, S. 151-156.
Schneble, Hansjörg: Epilepsie. Erscheinungsformen – Ursachen – Behandlung. München: Verlag C. H. Beck, zweite, überarbeitete Auflage 2003 (= Wissen in der Beck'schen Reihe).
Schiller, Friedrich: Versuch über den Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen (1780). In: Schiller, Sämtliche Werke. 5 Bde. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1987. Bd. 5, S. 287-324, hier S. 310 und S. 308.
Weinberg, Mieczyslaw: Der Idiot. Oper in vier Akten / zehn Bildern. „Im Angedenken an Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch.“ Libretto von Alexander Medwedjew nach dem Roman von Fjodor M. Dostojewskij. Uraufführung am 9. Mai 2013 am Nationaltheater Mannheim. Mannheim: Stiftung Nationaltheater Mannhein 2013. Darin: Horst-Jürgen Gerigk: Dostojewskijs Roman „Der Idiot“. Eine Einführung, S. 16-21.