Prof. Dr. Horst-Jürgen Gerigk
Prof. Dr. Horst-Jürgen Gerigk

Kommentar des Autors zu seinem Buch

 

Horst-Jürgen Gerigk: Vom Igor-Lied bis Doktor Schiwago. Lesetipps zur russischen Literatur. Heidelberg: Mattes Verlag 2018. 367 Seiten. 24.--Euro.

 

Zum ersten Mal wird hier die Geschichte der russischen Literatur nicht chronologisch dargerstellt. Das Prinzip dieser Konzeption erläutert die „Vorbemerkung“ (Seite13 bis 15).

Präsentiert werden in jeweils einem Kapitel Einzelanalysen der Romane „Ein Held unserer Zeit“ (Lermontow), „Schuld und Sühne“ (Dostojewskij), „Was tun?“ (Tschernyschewskij), „Petersburg“ (Belyj), „Jewgenij Onegin“ (Puschkin), „Maschenka“ (Nabokov), „Das Leben Arsenjews“ (Bunin).

Das 19. Kapitel behandelt zwei Romane, die auf einander bezogen werden: Samjatins Roman „Wir“ und Gladkows Roman „Zement“. Samjatin stellt die sowjetische Wirklichkeit ablehnend dar, Gladkow stellt diese Wirklichkeit zustimmend dar. Es gibt also keine eindeutige Wirklichkeit. Erst die literarische Fiktion stellt Eindeutigkeit her. Darüber ist nachzudenken,

Das 7. Kapitel behandelt „Aspekte des Religiösen in der russischen Literatur“: von Derschawins „Gott“ bis zu Gogols „Wij“; und von Leskows „Klerisei“ zu Ostrowskijs „Wie der Stahl gehärtet wurde“.

Das 21. Kapitel ist Swetlana Geiers Sammelband „Puschkin

zu Ehren“ gewidmet, worin sie Arbeiten russischer Dichter über Dichtung zusammenstellt: Puschkin, Dostojewskij,

Tolstoj, Belyj, Gorkij, Sinjawskij, Brodskij. Statt einer russischen Literaturgeschichte.

Das 2. Kapitel vergleicht das „Igor-Lied“ mit Pasternaks Roman „Doktor Schiwago“. Mit dem Resultat: zweimal Geschichte. Im ersten Beispiel definiert eine verlorene Schlacht als historisches Ereignis alle beteiligten Individuen als politisch handelnde Charaktere. Im zweiten Beispiel liefert die politische Geschichte nur die historisch-konkrete Kontrastfolie für das kurze Idyll einer ganz intimen Liebesgeschichte, die als eine solche zur Hauptsache wird.

Das 8. Kapitel erläutert die drei großen Erzählzyklen der russischen Literatur: Puschkins „Geschichten des verstorbenen Iwan Petrowitsch Belkin“, Turgenjews „Aufzeichnungen eines Jägers“ und Babels „Reiterarmee“.

Das 5. Kapitel behandelt „Das Dreigestirn des russischen Romans: Turgenjew, Dostojewskij,Tolstoj“, die jeweils ideologisch und erzähltechnisch von einander abgegrenzt werden.,

Das 14. Kapitel präsentiert „Drei Komödien der besonderen Art“: nämlich Gribojedows „Verstand schafft Leiden“, Gogols „Revisor“ und Tschechows „Möwe“.

Und das 3. Kapitel präsentiert ein „imaginäres Gespräch“ zwischen Gottfried Benn und Vladimir Nabokov in einem Café am Kurfürstendamm Mitte der Dreißigerjahre des 20. Jahrhunderts. Benn und Nabokov lebten damals zur selben Zeit in Berlin, haben sich aber niemals getroffen und wußten auch nichts von einander. In dem hier protokollierten imaginären Gespräch unterhalten sich beide über Dichtung und sind erfreut, einander kennengelernt zu haben.

Ungewöhnlich ist des weiteren das 30. Kapitel: Igor Strawinskys Oper „Die Geschichte vom Soldaten“ wird hier der russischen Literatur zugeordnet, weil das französische Libretto von Charles Ferdinand Ramuz auf einem russischen Märchen beruht, dessen Handlung etwas abgewandelt wird,

Das 26. Kapitel beschäftigt sich mit Rainer Maria Rilke. Die wenigsten wissen, dass Rilke sehr gut Russisch konnte. Ja, er hat Tolstoj besucht und sich mit ihm auf Russisch unterhalten. Aber nicht nur das: Rilke hat auch das „Igor-Lied“ ins Deutsche übersetzt. Und er hat selbst russische Gedichte geschrieben, von denen eins auf Seite 268 abgedruckt und in deutscher Übersetzung interpretiert wird.

Einen völlig anderen Zuschnitt hat das 17. Kapitel, das „Die russische Literatur in amerikanischer Perspektive“ erläutert. Das heißt: Es geht um Sekundärliteratur zu russischen literarischen Texten, verfasst von amerikanischen Kollegen: Robert Louis Jackson, Victor Terras, William Mills Todd und Joseph Frank. Hier werden also Lestipps zur Erforschung der russischen Literatur in den USA bereitgestellt: als Gegengewicht zur ideologisch verzerrten Interpretation der russischen Literatur innerhalb der Sowjetunion, die erst 1992 aufgelöst wurde,

Im 9. und 10. Kapitel wird jeweils ein „Kunstwerk ohne Künstler“ vorgeführt. Der Ausdruck stammt von Nietzsche, der als Beispiele benennt: den Jesuitenorden“ und das „Preußische Offizierscorps“. Denn: Der Zusammenhang der Teile mit dem Ganzen sieht im „Orden“ wie im „Corps“ so aus, als sei er von einem Künstler erschaffen worden. Das Gleiche gilt für John Reeds „Zehn Tage, die die Welt erschütterten“, worin Lenins Oktober-Revolution als Tatsachenbericht fixiert wird. Und es gilt auch für Leben und Schicksal Rasputins, der als Wunderheiler Zugang zur Zarenfamilie fand und vom Fürsten Jussupoff erschossen wurde. Beide „Ereignisse“ werden deshalb im 9. und 10. Kapitel der russischen Literatur zugeordnet.

Das 12. Kapitel beschwört suggestiv die „Kunst Gogols“: mit der Erzählung „Der Mantel“, der Komödie „Die Heirat“ und dem Roman „Die toten Seelen“. Und im 15. Kapitel führt uns Puschkins „Boris Godunow“ zur gleichnamigen Oper von Musorgskij in Anwesenheit der angeblichen „Fakten“ aus Karamsins „Geschichte des Russischen Reiches“. Den Zusammenhang zwischen Erzähltechnik und Menschenbild bei Tschechow erläutert das 13. Kapitel am Beispiel der Erzählungen „Der schwarze Mönch“ und „Die Dame mit dem Hündchen“.

Das Gegenstück zu Rilkes russischen Gedichten liefert das 16. Kapitel mit den deutschen Gedichten von Alexej Tolstoj und Karolina Pawlowa.

Eine besondere Pointe setzt das 32. Kapitel mit einem Dichter, den es gar nicht gegeben hat: „Kosma Prutkow“ ist das gemeinsame Pseudonym Alexej Tolstojs und der Brüder Shemtschushnikow. Sogar ein „Portrait“ wurde angefertigt und liegt nun vor.

Und das 20. Kapitel zeigt, dass Puschkins Versroman „Jewgenij Onegin“ implizit Gottfried von Strassburgs „Tristan und Isolde“ aktualisiert.

Mit dem 27. Kapitel wird die Autobiographie als literarische Gattung zum Thema: von Awwakum bis Alexander Herzen.

Und die „Prostituierte als literarische Gestalt“ gehört zu den Provokationen Dostojewskijs und Tolstojs, die mit Sonja Marmeladowa („Schuld und Sühne“) und Jekaterina Maslowa („Auferstehung“) bleibende Frauengestalten geschaffen haben, wie das 22. Kapitel darlegt.

„Musik als Literatur“ präsentiert das 23. Kapitel: „Beethovens letztes Quartett“ (Odojewskij), „Die Sänger“ (Turgenjew). „Die Kreutzersonate“ (Tolstoj) und „Bahnhofskonzert“ (Mandelstam).

Den Essay-Band „Nekropolis“ als Wladislaw Chodassewitschs Kommentar zum Fin-de-Siécle verdeutlicht das 25. Kapitel. Die Prinzipien des russischen „Futurismus“ von Majakowskij über Chlebnikow zu Krutschonych demonstriert das 28. Kapitel.

Und die staatlich gesteuerte Jugenderziehung erläutert das 29. Kapitel im Vergleich von Anton Makarenkos „Der Weg ins Leben“ mit Karl Aloys Schenzingers „Der Hitlerjunge Quex“. Wie sich doch unter Stalin und Hitler die Vorbilder gleichen!

Das letzte, 33. Kapitel schließlich kehrt mit der Beantwortung der Frage „Was muß der Leser wissen?“ zur „Vorbemerkung“ zurück, und der Kreis schließt sich.

Grundsätzlich bleibt festzustellen: Jedes der insgesamt 33 Kapitel wurde so angelegt, dass es separat gelesen und verstanden werden kann. Es sollen auf diese Weise natürliche Zugänge für „Wissenshungrige im Wunderland der russischen Literatur“ geschaffen werden, wie es die „Vorbemerkung“ formuliert hat. Die Probe aufs Exempel ist hier ganz einfach. Nur ein einziges Kapitel lesen! Egal, welches.

 

Horst-Jürgen Gerigk

Heidelberg, 19. Mai 2018

Neue Aufsätze

Horst-Jürgen Gerigk

 

Festrede auf Rolf-Dieter Kluge

 

Am 8. Oktober 2017 wurde Prof. Dr. Rolf-Dieter Kluge in Badenweiler mit dem Titel „Ehrengast“ ausgezeichnet.

 

Text des Aufsatzes

Horst-Jürgen Gerigk

 

Zur Darstellung der Epilepsie in Dostojewskijs großen Romanen: Fürst Myschkin, Kirillow und Smerdjakow

 

Text des Aufsatzes

Horst-Jürgen Gerigk

 

Turgenjew und die Musik. Ein Vergleich mit Dostojewskij und Tolstoj

 

Text des Aufsatzes

Horst-Jürgen Gerigk

 

Dostojewskij und Martin Luther

 

Text des Aufsatzes

Video

Literaturwissenschaft - was ist das?